Es ist keine leichte Kost, die da bei Norbert Sandmann auf dem Schreibtisch liegt: "Kaviar zum Nachtisch" nennt sich das Erstlingswerk des 61 Jahre alten Euerbachers. Der Autor ist aufgrund einer Wirbelsäulen-Erkrankung auf den Rollstuhl angewiesen. Er engagiert sich vor allem für Barrierefreiheit und Inklusion. Sandmann bringt aber auch authentische Erfahrungen aus einer Internet-Gruppe für Opfer sexualisierter Gewalt mit.
"Stefan Fuhrmann" nennt sich der Protagonist der "erzählenden Biographie" – ein Mensch, der in der Kindheit schweren sexuellen Missbrauch durchlitten hat. "Hineingeboren in eine sch...Familie", lautet der vielsagende Untertitel.
Es gehe um einen realen Fall, betont Sandmann, auch wenn Namen und Orte verändert worden seien, aus rechtlichen Gründen. Vater Johann, eine Art Übersteigerung von "Ekel Alfred" aus der Fernsehserie, ist noch in der Nazi-Zeit erzogen werden. Ebenso wie Mutter Helma, die den Sadismus und Sexismus ihres Ehemanns eisig hinnimmt.
Auch wenn keine echte Erklärung für den Super-GAU in dieser Familie geliefert wird: Das pervertierte "Private" läuft im Buch zumindest mit dem verkorksten "Politischen" parallel – den Abgründen deutscher Geschichte, zwischen brauner Pädagogik, Kaltem Krieg oder dem Giftregen aus Tschernobyl. Die Fuhrmanns flüchten aus Schlesien über die DDR in die Gegend von Schweinfurt.
Der "Erzeuger" ist ein cholerischer Perversling, der seine Söhne mit dem Ledergürtel misshandelt und systematisch demütigt. Als Stefan acht Jahre alt ist, wird er von seinem fünf Jahre älteren Bruder missbraucht. Der Haustyrann stirbt früh, sein Vermächtnis bleibt. 40 Jahre lang behält Stefan Fuhrmann, der sich selbst eine Mitschuld zuweist, das Geheimnis für sich. Bevor er sein Schweigen bricht und "alles auseinander fliegt". Da steht der Bruder schon bei der Polizei im Verdacht, sich an den eigenen Töchtern vergangen zu haben: Kindheit als permanenter und vererbbarer Ausnahmezustand.
Was geschieht, wenn das Abnorme dort Einzug hält, wo Kinder "normal", sprich beschützt und geliebt, aufwachsen sollten? Wenn die Familie das Ungeheuerliche nicht wahrhaben will und lieber das Opfer zum Täter erklärt, der ihre vermeintliche "heile Welt" zerstört? Stefan Fuhrmann findet schließlich Hilfe bei einem erfahrenen Psychotherapeuten.
380 Seiten zählt das Werk, das auch als eBook erhältlich ist. Mit dem Einblick in Stefans Gefühlswelt will Norbert Sandmann Menschen zum genaueren Hinschauen bewegen und Präventionsarbeit leisten: "Mit dem Buch soll zukünftiger Missbrauch verhindert werden." Ehefrau Heike hat das Titelbild beigetragen, derzeit arbeitet der Autor schon am zweiten Werk: Eine Liebesdrama in Galizien, das im Spanischen Bürgerkrieg beginnt.