
Als Brigitte Wehner in ihr Elternhaus einzog, machte sie eine Entdeckung, die für die Geschichtsschreibung des Anarchismus in Deutschland von besonderer Bedeutung ist: Sie fand rund 600 Fotografien ihres Großvaters Wilhelm Wehner, der ab 1900 in Schweinfurt als Anarchist, Syndikalist, Antimilitarist, Freigeist und Naturfreund eine zentrale Rolle spielte. Anarchismus ist eine politische Ideenlehre und Philosophie, die Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie als Form der Unterdrückung von Freiheit ablehnt.
Norbert Lenhard, langjähriges Mitglied der "Initiative gegen das Vergessen", widmet Wehner ein Buch, das vor Kurzem erschienen ist und das er bei einer gut besuchten Veranstaltung in der Kulturwerkstatt Disharmonie vorgestellt hat.
Aktivisten der anarchistischen Bewegung ließen sich meist nicht fotografieren
Wie Lenhard erklärt, sind die Fotos von besonderer Bedeutung, da sich Aktivisten der anarchistischen Bewegung aus verständlichen Gründen meist nicht fotografieren ließen. Es war eine mühsame Arbeit, die abgebildeten Personen zu identifizieren. Darüber erschloss sich Lenhard, ehemaliger Betriebsratsvorsitzender bei Schaeffler, ein Netzwerk weiterer Anarchisten – etwa jene, die sich in der "Bakunin-Hütte" bei Meiningen trafen, benannt nach dem russischen Revolutionär Michail Bakunin. Im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Berlin stieß Lenhard zudem auf 18 Briefe, die Wehner nach dem Zweiten Weltkrieg an den in die USA emigrierten Anarchisten Rudolf Rocker schrieb.
Auch das Internationale Archiv für Sozialgeschichte der Niederlande, das das Leben von rund 3500 Anarchisten dokumentiert, wurde inzwischen auf den Schweinfurter Fund aufmerksam – eine neue, wertvolle Quelle.
Für Lenhard fügte sich mit dem Bilderfund "eins zum anderen". Zwei Jahre lang forschte er zum 1885 in Mainberg geborenen Wilhelm Wehner, Sohn des Schreiners und Dienstmanns Winfried Wehner und dessen Frau Monika Weller. 1902 trat Wilhelm der SPD bei, fand jedoch bald Anschluss an eine anarchistische Gruppe rund um die Berliner Zeitschrift Revolutionär, deren verantwortlicher Redakteur er zeitweise war – was ihm seine erste Gefängnisstrafe einbrachte.
Haftstrafen unter anderem wegen seiner Beteiligung an Streiks
Weitere Haftstrafen folgten, unter anderem wegen seiner Rolle während der Räterepublik, seiner Beteiligung an Streiks und seiner Verweigerung des Kriegsdienstes. 1909 wurde er Mitglied beim Sozialistischen Bund Gustav Landauers. Weitere Mitgliedschaften in verschiedenen linken Organisationen kamen hinzu.
Lenhard betont, dass seine Arbeit nicht den Anspruch einer vollständigen Biografie erhebt – unter anderem, weil kaum persönliche Aufzeichnungen Wehners erhalten geblieben sind und Zeitzeugen, die ihn kannten, inzwischen verstorben sind. Einige Beschreibungen schildern ihn jedoch als charismatischen Menschen, der andere schnell für seine Ideen gewinnen konnte, dabei aber nie nach Ämtern strebte. Lenhard und seine Mitstreiter der "Initiative" recherchierten vor allem in Archiven, darunter auch das des Schweinfurter Tagblatts.
Privat lebte Wehner mit seiner Frau Maria-Luise, die aus der Nähe von Nagold stammte, und ihren drei Kindern in der Luitpoldstraße. Trotz seines politischen Engagements war er gesellschaftlich in Schweinfurt gut integriert. Er engagierte sich im Konsumverein und war Mitglied der freigeistigen Gemeinde. Die Kinder besuchten den Schwimmklub.
1933 wurde Wehner ins Bezirksgefängnis eingeliefert
Über Wehners Zeit in Haft gibt es kaum schriftliche Zeugnisse. Im Mai 1933 wurde er ins Bezirksgefängnis eingeliefert. Über die Aufseher äußerte er sich weitgehend positiv, einzelne SA-Männer hingegen hätten die Gefangenen brutal misshandelt: "Franz Roth und Georg Heim kamen blutig geschlagen in unsere Zelle." Am 30. September wurde Wehner nach strengen Verhören entlassen. Er zeigte sich überrascht, dass ihm das Konzentrationslager trotz Drohungen erspart geblieben war: "Wäre ich nach Dachau gekommen, lebte ich heute nicht mehr."
Ein besonderes Verdienst Lenhards ist die Dokumentation von rund zwei Dutzend Schweinfurtern, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts der anarchistischen Bewegung anschlossen.
Ausführlich beschäftigt sich das Buch auch mit der Nachkriegszeit und zeigt, wie mühsam der Wiederaufbau verlief – begleitet vom Niedergang des Anarcho-Syndikalismus. 1951 ging Wehner auf ärztlichen Rat in Rente. 1968 starb er in einem Seniorenheim.
Aus dieser Zeit berichtete auch Gisela Notz bei der Buchvorstellung in der Disharmonie. Sie wuchs in der Schweinfurter Gartenstadt auf und lernte Wehner persönlich kennen. 1968 zog sie nach Berlin, wo sie später im Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung arbeitete. Sie ist die Enkelin von Rudolf Keinholz, einem engen politischen Weggefährten Wehners. Die beiden führten intensive Diskussionen auf Spaziergängen durch die Gartenstadt – "Keine Angst, wir streiten nur", sagte er einmal zu seiner Enkelin, als die Gespräche etwas lauter wurden. Der katholisch erzogene Fabrikarbeiter Keinholz war am Aufbau der Gartenstadt beteiligt und engagierte sich im Bauverein sowie in anderen Genossenschaften.
Das Buch: Wilhelm Wehner – Anarchist, Syndikalist, Antimilitarist, Freigeist und Naturfreund, 144 Seiten, 16 Euro.