Es braucht ein wenig, bis klar wird, dass das eine Komödie ist. Die unwirtliche Bühne, die gestrenge Haushälterin, die zerklüftete Musik – „Albert Herring“, die 1947 uraufgeführte vierte Oper von Benjamin Britten (1913–1976), kommt anfangs ein wenig spröde daher. Róbert Alföldi setzt in seiner Inszenierung für das Opernstudio der Bayerischen Staatsoper, die am Montag im Theater zu sehen war, auf eine gehörige Portion Verfremdung. Das Publikum im nicht sehr vollen Theater scheint nach anfänglicher Verunsicherung sehr bald sehr angetan.
Alföldi lässt die ländliche Posse mit den üblichen Honoratioren wie Bürgermeister, Oberlehrerin, Pfarrer, Polizeichef und Landadeliger zwischen schmutziggrauen Betonwänden und ratternen Rolltoren spielen (Bühnenbild Ildikó Tihanyi), die Figuren bewegen sich, als wären sie direkt der Commedia dell Arte oder dem Kasperletheater entsprungen.
Surreale Grundstimmung
So entwickelt dieser „Albert Herring“ eine surreale Grundstimmung, die sich von anfänglicher Beklemmung über schrille Ausgelassenheit bis hin zur offenen Revolte steigert. Der Zerfall der alten Ordnung auf dem Dorfe, wenn man so will.
Die Handlung ist schnell erzählt: Die Nomenklatura des Provinzkaffs Loxford ist fest entschlossen, dem Verfall der guten Sitten Einhalt zu gebieten, und zwar durch die Wahl einer Maikönigin. Diese soll als Symbol der Tugend für moralischen Halt sorgen. Doch wie sich zeigt, gibt es in ganz Loxford keine junge Frau, die unbescholten genug wäre für ein solches Amt. Eine Stadt am Rande des Abgrunds. Dann muss halt ein Maikönig her. Die Wahl fällt auf Albert Herring, den leicht zurückgebliebenen Sohn der Obst- und Gemüsehändlerin. Doch dem mischt bei der Zeremonie ein freches Pärchen Rum in die Limonade. Albert, der vormals brave, ist blau und zieht, sehr zum Verdruss der Tugendwächter, los, die Freuden der Welt zu entdecken.
Profis und Talente
Das Ensemble setzt sich aus Mitgliedern des Opernstudios zusammen, der Nachwuchsschmiede der Staatsoper, und Gästen. Die Kombination aus Profis und Talenten funktioniert – da wird blitzsauber gesungen und mit sichtbarem Spaß gespielt. Miranda Keys als Lady Billows ist eine grandiose Schreckschraube. Eine machtgeile Charity Lady, vor deren imposanter Erscheinung und vor allem monumentalem Sopran wirklich alle kuschen.
Petr Nekoranec durchläuft als Albert Herring sehr nachvollziehbar die Wandlung vom Mauerblümchen zum Rumtreiber. Regisseur Róbert Alföldi setzt dafür als berückend plausibles Symbol (echte) Äpfel in großen Mengen ein. Die werden mal in arglosen Gesten der Freundlichkeit als Geschenk überreicht, mal als Versuchung umworben, mal wütend weggekickt.
Deniz Uzun (Haushälterin), Johannes Kammler (Pfarrer), Joshua Owen Mills (Bürgermeister), Igor Tsarkov (Polizeichef), Leela Subramaniam (Oberlehrerin), John Carpenter (Schwerenöter Sid), Marzia Marzo (Nancy, Freundin des Schwerenöters Sid) und Ann-Katrin Naidu (Alberts Mutter) agieren als homogenes Ensemble, jede Rolle hat ein, zwei Momente, in denen mal ein glühender Bariton oder ein gleißender Tenor hervortreten kann.
Und dann sind da noch die drei Kinder – irrlichternde Gestalten irgendwo zwischen Zauberflöte und Horrorfilm. Meira Durand, Anna-Carina Gehlisch und Jasper Timm stehen den Erwachsenen in Sachen Intonation und Präzision in nichts nach, beeindruckend, wie sie sich einerseits in die komplexen Abläufe einfügen und andererseits ihre hochanspruchsvollen Partien meistern.
Brittens satirische Tonsprache
Brittens ganz eigene, nicht selten satirisch eingesetzte Tonsprache mischt permanent die unterschiedlichsten Tonsysteme, es gibt wenig Vertrautes, woran die Sänger sich orientieren können. Hinzu kommt die knifflige Orchestrierung bei kammermusikalischer Besetzung. Oksana Lyniv ist wohl nicht umsonst Assistentin des Perfektionisten Kirill Petrenko. Unter ihrer Leitung spielt das Staatsorchester im Graben fast schon beängstigend präzise.
Wie sich herausstellt, ist das Bühnenbild dann doch sehr wandelbar. Das wird am deutlichsten in der grotesken Szene, in der Albert (mit Schleier und Krone aus Orangenblüten) zum Maikönig erhoben wird – ein gleißend weiße Feier lustfeindlicher Keimfreiheit.