Es ist schon fast ein Mikrokosmos, der für Schweinfurt steht wie kaum eine andere Schule. 60 Prozent der Menschen, die in der Industriestadt leben, haben Migrationshintergrund. An der kleinen Friedrich-Rückert-Grundschule mit ihren 200 Schülerinnen und Schülern liegt der Anteil bei 90 Prozent. 15 Jahre lang hat Günther Leo Redolfi die Schule geleitet. Im Abschieds-Interview spricht er offen über Herausforderungen, Unterstützung, Rückschläge und das, was ihm sein Beruf gegeben hat.
Günther Leo Redolfi: Das ist schon eine andere Kategorie, da wage ich nicht, mich zu vergleichen. Aber: Die Gemeinsamkeit ist vielleicht die lange Zeit. So lange an einem Arbeitsplatz in leitender Position zu sein, da hat man Einfluss, kann prägen, hat aber auch ups and downs erlebt. Man lernt jedes Jahr dazu, von Kollegen, Eltern, Kindern. Wichtig ist es, selbstkritisch zu bleiben, zu überlegen, ob dies oder jenes richtig war. Ich bin ein Mann des Konsenses, würde nie etwas alleine durchpeitschen. Vielleicht ist das auch eine Gemeinsamkeit. Merkel hat ja auch immer den Konsens gesucht. Außer vielleicht 2015, zum Beginn der Flüchtlingswelle.
Redolfi: Auch wir sind davon überrascht worden, waren wie alle anderen Einrichtungen nicht darauf eingestellt, obwohl wir Deutsch als Zweitsprache hatten und schon vorher viele Kinder mit Migrationshintergrund. Aber 2015, da mussten jetzt Kinder in allen Jahrgangsstufen aufgenommen werden, die vorher monatelang nicht in die Schule gegangen sind, ganz wenig gefördert worden sind, die Sprache nicht kannten. Für sie gute Angebote zu machen, das war eine immense Herausforderung für uns Lehrer. Wir haben versucht, auch die Eltern einzubinden, haben zum Beispiel ein Pädagogisches Elterncafé eingerichtet, mit Hilfe von Übersetzern das deutsche Schulsystem erklärt. Da ging es auch um ganz einfache Dinge. Entscheidend war aber auch, bei Eltern, die Furchtbares erlebt hatten, Vertrauen zu gewinnen und das Gefühl zu vermitteln, da sind Lehrer und Schulleitung, die uns annehmen, uns und unsere Kinder unterstützen. Sechs Jahre danach sind die Veränderungen spürbar. Im positiven Sinn. Auch manche Eltern sprechen inzwischen gut Deutsch. Heute hat jedes dritte unserer Kinder Fluchthintergrund.
Redolfi: Sicher, aber nicht nur. Die Erfahrung mit anderen Nationen zusammen zu leben, gemischte Klassen, das ist auch etwas positives. Viele Eltern sehen das auch so, haben ihre Kinder bewusst an der Friedrich-Rückert-Schule gelassen, da bin ich dankbar. Der hohe Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund, auch aus der EU, hat einfach etwas mit unserem Schulsprengel zu tun: Innenstadt West, da gibt es günstigen Wohnraum, den sich Familien leisten können. Fehlende Sprachkenntnisse bleiben für uns immer ein Thema. Aber das Wichtigste ist, dass sich die Kinder angenommen fühlen, respektiert. Alle haben Förderbedarf, und den versuchen wir zu erfüllen. Seit 2010 haben wir eine Jugendsozialarbeiterin, als eine der ersten Grundschulen. Viele Stellen arbeiten zusammen, unterstützen – Ehrenamtliche, Lesehelfer, Jugendamt bis hin zur Schulpsychologin. Diese ganzen Unterstützungsangebote machen Schule aus.
Redolfi: Wir waren von Anfang an dabei. 25 Stunden in der Woche ist sehr viel, da sind wir sehr dankbar. Aber es steht bei diesem Thema immer die Frage im Raum, wie verändern sich Übertrittsquoten an Gymnasien oder Realschulen, verbessern sie sich? Die Unterstützung durch pädagogische Hilfskräfte ist definitiv eine riesige Hilfe im Grundschulalltag, wenn es darum geht, Kinder zu unterstützen, sie an die Hand zu nehmen, ihnen das Lernen zu erleichtern. Es führt aber nicht zwangsläufig dazu, dass Quoten steigen. Was mir ganz wichtig ist: Qualität von Schule kann nicht nur an Notendurchschnitten am Ende der vierten Klasse gemessen werden. Das ist zwar wichtig, aber es gibt so viele Wege für unsere Kinder, dass sie ihren Weg machen. Dass sie es schaffen, habe ich in den 35 Jahren, in denen ich als Lehrer in Stadt West gearbeitet habe, oft gesehen. Manche Eltern habe ich früher selbst unterrichtet, alle haben ihren Weg gemacht.
Redolfi: Wir haben vor kurzem die Lehrerstunden zugewiesen bekommen. Danach hat die Friedrich-Rückert-Grundschule im Bereich Deutsch-Vorkurse, der Deutschförderung, in Kooperation mit Kitas, und bei den Deutsch-Förderstunden im nächsten Schuljahr ein Drittel bis die Hälfte weniger Stunden. 15 Stunden, um genau zu sein. Da frage ich mich, was steckt da für eine Logik dahinter? Da zeigt sich doch, es läuft einiges noch falsch, auch wenn viel getan wird. Nicht zuletzt schlägt sich hier auch der Lehrermangel durch. Für mich zeigt dieses Beispiel, da stimmt etwas nicht, in dem ganzen System. Das gilt auch für den Leistungsdruck in der vierten Jahrgangsstufe. Ich würde den Kindern etwas mehr Zeit wünschen, bis sie sich entscheiden müssen, mindestens bis zur sechsten Jahrgangsstufe.
Redolfi: Auf jeden Fall. Da wir jetzt 15 Stunden weniger für Deutsch-Vorkurse und die Deutsch-Förderung bekommen werden, wäre es eine sehr gute Hilfe, wenn diese durch die Stadt ausgeglichen werden könnten, zum Beispiel über die Stelle "Gern daheim". Eine erfahrene pädagogische Hilfskraft gäbe es an der Schule. Sie müssten dann einen gesonderten und befristeten Vertrag mit der Stadt abschließen. Die Stadt hat auch früher schon auf diese Weise geholfen. Ansonsten sind wir dankbar für jede Unterstützung. Zum Beispiel führt die Arbeitsgruppe Elternschmiede in den Ferien jetzt ein außerschulisches, kostenloses und ganztägiges Brückenangebot mit Mittagessen durch. Im Einsatz sind ehrenamtliche Helfer und Studenten um Bürgermeisterin Sorya Lippert. Auch das ist wichtig. Durch Distanz- und Wechselunterricht in der Pandemie sind bei vielen Kindern die Wissenslücken noch größer geworden.
Redolfi: Absolut. Lehrer, das ist schon ein Wahnsinnsberuf. Aber: man muss Kinder mögen. Wenn sie einen nerven, dann muss man gleich aufhören. Aber es ist eine tolle Sache zu sehen, wie sich Kinder entwickeln. Natürlich gibt es auch Fälle, an denen verzweifelt man fast. Auch als Schulleiter würde ich mich wieder bewerben. Man kann da wirklich viel gestalten, wenn das Team mitzieht. Lehrer ist man nach wie vor. Als Schulleiter einer Schule in dieser Größe unterrichten sie noch viel. Bei mir waren das zuletzt 16 Schulstunden. Der Taktschlag die letzten Jahre war schon hoch. 2006 die Einführung der gebundenen Ganztagsschule als eine der ersten in Unterfranken, 2015 die Flüchtlingskrise, daneben das Thema Digitalisierung und schließlich Corona – das war wirklich Wahnsinn. Das führt auch dazu, dass sich viele den Posten als Schulleiter nicht antun wollen.
Redolfi: Ich freue mich darauf, an der FRS vorbeigehen zu können und nicht diese große Verantwortung mehr zu haben. Ab und zu hineinzuschauen, ein bisschen zu plaudern. Und Zeit zu haben für das, was ich gerne mache: schreinern mit Holz, Fahrrad fahren, wandern, mit meiner Frau auf der Terrasse zu sitzen, mit den Enkelkindern zu spielen – das sind tolle Aussichten. So gerne ich Schulleiter war, so gerne gebe ich jetzt aber auch ab. Und das mit einem guten Gefühl, das rausgeholt zu haben, was möglich war.