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NIEDERWERRN
Bomber über dem Kartoffelkeller
Von unserem Mitarbeiter Uwe Eichler
 |  aktualisiert: 13.01.2016 10:49 Uhr

„Erzähl doch mal, wie es früher war, vor 80 Jahr“, heißt es in der Gemeindebibliothek, der ehemaligen, über 200 Jahre alten Synagoge. Laura Fuchs begleitet an der Harfe, Moni Schlereth steuert Evergreens und Besinnliches bei. Rathauschefin Bettina Bärmann stellt das „Buch zur Serie“ vor, das es nun in einer Auflage von 500 Stück gibt. Die Gemeinde ist die Herausgeberin, finanziert hat es die Sparkasse.

Seit 2010 hat Heimatautorin Gisela Bartenstein-Eschner Zeitzeugenberichte gesammelt. Der Alltag, aber auch die dramatischen Ausläufer der „großen Geschichte“ kehren zurück: Manch Wissensschatz wurde erst im letzten Moment geborgen, der eine oder andere Befragte ist zwischenzeitlich verstorben. Einige wollten anonym bleiben, aber auch bekanntere Namen sind dabei, wie Karl Bärmann (der Schwiegervater von Bettina Bärmann) oder Heinrich Schreier.

Er konnte sich noch gut an die sechs Stockschläge in der Schule erinnern, die Strafe für ein geplündertes Amselnest. Dafür läutete er, der evangelische Bursche, als Aushilfe die Glocken, als Nachkriegs-Bischof Julius Döpfner die katholische Notkirche Niederwerrns besucht hat: „Und keiner bekam dies mit.“ Im Ort gab es Originale wie den Farmer Selzam, der seinem Kaiser in Afrika gedient hatte, bevor er anfing, Nutrias und Silberfüchse zu züchten. Auf dem Weg in die Stadt fuhr der Schutztruppler mit Südwester, Stiefel und Degen aus.

Dazu kommen Anekdoten und Liebeleien, ebenso wie tragische Morde und Selbstmorde. Da waren die jüdischen Niederwerrner, zu denen das Verhältnis als Geschäftspartner, Kunden und Nachbarn lange gut war. Die Kinder machten für die wohlhabenden Juden gerne Besorgungen, etwa indem sie die weißen Krägen der Wäscherei Hoffmann austrugen. Als Belohnung gab es knuspriges Matzenbrot, Näschereien oder Trinkgeld.

Die Stimmung änderte sich mit dem „Mobbing“ der Nazis. Höhepunkt war die Gewaltorgie der „Reichskristallnacht“ im November 1938. Augenzeugen, wie Karl Bärmann, bekommen bei der Erinnerung an die hasserfüllte Raserei von SA und Mittätern bis heute eine „Gänsehaut“.

Dass manch judenfeindliches Klischee hausgemacht war, zeigt die Geschichte von einem gerissenen Handwerker. Der Niederwerrner soll sich auf die Kunst verstanden haben, die Hörner alter Kühe glatt zu feilen und zu polieren, um sie dadurch jünger aussehen zu lassen: sehr zur Freude mancher Bauern aus der Umgebung. Die Tiere wurden dann von jüdischen Viehhändlern ahnungslos als Jungtiere weiterverkauft. Wenn so ein Betrug aufflog, geriet zwangsläufig der „schlechte Jud“ in Verdacht.

In Oberwerrn gab es schon früh Elektrizität, dank der heutigen Steinmetz-Mühle, in die Ferdinand Keil schon zu Beginn des Jahrhunderts eine Turbine eingebaut hatte. Bereits 1915 wurde mit dem Strom ganz Oberwerrn beliefert, später geriet der Betrieb in finanzielle Schieflage.

Ansgar Mauder erinnert daran, dass es schon 1914 die erste dorfeigene Wasserleitung gab, die Oberwerrner Wasserversorgung somit hundert Jahre alt ist, weit älter als in Niederwerrn. Anfang der 30er Jahre folgten die ersten Abwasserkanäle. Durch die schwere Eisenbahn-Flak am Oberwerrner Bahnhof und den nahen Geldersheimer Flugplatz war das Dorf ein Schauplatz der Luftschlacht um Schweinfurt. Dort, wo zwecks Tarnung des Flugplatzes Kunstnebel abgelassen wurde, soll der Boden bis heute verätzt sein.

Ein Oberwerrner schoss mit dem Zimmerstutzen auf Tiefflieger, in der Hoffnung, so die Amis zu vertreiben. In einer Scheune wurde ein Lazarett eingerichtet, bei den Luftangriffen flüchteten sich die Menschen in die großen Gewölbekeller, vor allem den Bierkeller des Wirtshauses Sankt Georg. „Die Kinder hüpften übermütig umher, füllten den anderen Kindern Kartoffeln in die Kapuzen und lachten schelmisch dabei“, so eine Erinnerung. Die verängstigten Erwachsenen beteten, weinten und ermahnten die Kinder, ruhig zu sein. Beim Oktoberangriff 1944 gab es zahlreiche Zerstörungen und Opfer, vor allem im Keller des Bochtler-Hauses, das einen Volltreffer erhielt: „Das Leid im Dorf war sehr groß.“

Viele kamen nur mit Schwarzschlachten über die Runden, ein schweres Vergehen in Zeiten streng rationierter Lebensmittel. Am Ende organisierte Pfarrer Georg Lengler, der Englisch sprach, die Übergabe des Dorfes an die vorrückenden Amerikaner: „Darauf hängte jeder ein weißes Betttuch aus dem Fenster.“ Zwei Bomben-Blindgänger dienten später Kindern als Paddelboote auf der Wern.

321 Euro kommen an diesem Abend an Spenden zusammen, tausend Euro wurden schon zuvor gesammelt, Geld für Seniorengruppen in den Pfarreien Ober- und Niederwerrn.

 
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