Die Glocke an der Ladentür bimmelt, ein Kunde, er scheint in Eile zu sein, wischt herein, grüßt, und verlangt "eine Packung Luckys". "Welche Größe?", fragt Anita Lindner und greift dann – tausendmal geübt – in ihr gut sortiertes Zigarettenregal um die gewünschte Packungsgröße über die Ladentheke zu reichen. Das Bimmeln wird in dem kleinen Laden zur vertrauten Begleitmelodie an diesem Vormittag, denn die Kunden geben sich sprichwörtlich "die Klinke in die Hand", warten teilweise sogar draußen, schließlich haben wir Corona, damit es nicht zu voll wird auf den wenigen Quadratmetern.
Eine Zeitschrift oder Zeitung, den Lottoschein abgeben, eine Guthaben fürs Handy, oder irgendetwas aus dem Kosmos der Kleinigkeiten, die der Mensch so braucht. Auch Monats- und Wochenkarten für den Schweinfurter Stadtbusverkehr wandern über die Ladentheke. In ihrem Mix aus Kiosk und Schreibwarenladen hält Anita Lindner beinahe alles bereit, was auf die Schnelle oder spontan auf die Wunschliste kommt – und das seit 45 Jahren.
"Schreibwaren-Lindner", für Freunde des gepflegten Glücksspiels auch "Lotto Lindner", das ist am Berliner Platz gleich neben der Elisabeth-Apotheke seit viereinhalb Jahrzehnten eine feste Größe im Stadtteil Bergl. Die ersten beiden Jahre, von 1976 bis 1978, war der Laden noch in der nur einen Steinwurf entfernten Königsbergstraße beim Gasthof Dürr. Silvester 1978 dann der Umzug zum Berliner Platz – ein halbes Jahr lang gab es zwei Geschäfte – und 1987 die große Renovierung und der Umbau.
Zwei Wochen war der Laden Baustelle, erinnert sich Anita Lindner, die in all den Jahren den Laden geführt hat und die das vertraute Gesicht im Laden und an der Kasse war und ist. Zwei Wochen, in denen nicht etwa der Einfachheit halber geschlossen wurde. Nein, da wurde im Hof ein Gartenhäuschen aufgebaut, in dem der Verkauf weiterging.
Und wieder bimmelt die Glocke, ein Kunde holt sich noch schnell eine "Bildung", womit er eine Zeitung mit vier Buchstaben meint. "Na, hast du heute noch Spätschicht", fragt Anita Lindner, was der Kunde mit einem Nicken quittiert. Man kennt sich, hat sich über die Jahre kennengelernt. "90 Prozent sind Stammkunden", sagt Anita Lindner, die im April 68 wird. So manche(r), der heute bei ihr seinen Lottoschein abgibt, hat schon als Kind bei ihr seine Schulhefte gekauft und kauft sie genau im gleichen Laden nun für seine Kinder.
Es sind Verbindungen entstanden, aus Kunden wurden Bekannte, aus manchen Bekannten so was wie Freunde. Vor allem Ältere, die alleine leben, die nun im Lockdown noch weniger soziale Kontakte haben, kommen gerne in den Laden zum kleinen Plausch und "natürlich ist man manchmal auch der Kummerkasten", so Anita Lindner.
Ausgebildete Kinderpflegerin
Ein Leben hinter der Ladenkasse, von Anfang an geplant war das nicht. "Die Mutter hat in der Lotto-Bezirksstelle gearbeitet und die hat gehört, dass die Betreiberin des damaligen 'Schreibwaren Backmann' aus gesundheitlichen Gründen aufhören will". "Das wär doch was für dich", so der gutgemeinte Rat der Mutter. Anita Lindner, damals 23 und ausgebildete Kinderpflegerin, hat auf ihre Mutter gehört und so wurde und blieb sie die "Anita vom Lottoladen am Berliner Platz", der sicher irgendwie als "Tante-Emma-Laden" durchgehen könnte, aber Anita ist eben Anita und keine Emma. Seither schließt sie sechs mal in der Woche um 7.15 Uhr ihren Laden auf und meistens erst um 18 Uhr wieder zu.
Ein Laden, der ihr mittlerweile samt der darüber befindlichen Wohnung selbst gehört. "Mit Ladenmiete wäre das nicht zu stemmen", meint sie, reich wird man nicht, aber es reicht. Dafür wird man reich an Erfahrungen – nicht nur an guten. Fünf nächtliche Einbrüche gab es in all den Jahren, der letzte war im März 2020. Nur einmal wurde ein Einbrecher gefasst und musste sich vor Gericht für seine Tat verantworten.
Der Vorfall, der am meisten in Erinnerung bleibt, war ein Überfall 2010 "genau an meinem Geburtstag", erinnert sich Anita Lindner. Zwei Männer, zwischen 20 und 25 Jahre alt, betraten an jenem Samstag kurz vor Ladenschluss mit ins Gesicht gezogenen Kapuzen und einer Pistole bewaffnet den Laden. Doch Anita Lindner bewies Courage. "Von mir gibt's nix", war ihre unmissverständliche Antwort auf die Geld-Forderung der beiden jungen Männer. Dann griff sie zum Telefonhörer, um vor den Augen der beiden Räuber die Polizei anzurufen. "Scheiße, die ruft die Bullen", habe der eine der beiden Männer noch gesagt und sie flüchteten zu Fuß und ohne Beute aus dem Geschäft.
Ihren Geburtstag hat sie am Abend des gleichen Tages dennoch mit Freunden gefeiert, wobei es natürlich nur ein Thema gab – den Überfall, Anerkennung für ihre Courage aber auch die Einschätzung "ich an deiner Stelle hätte denen das Geld gegeben". "Für mich sah das nicht nach einer echten Waffe aus", erklärt sie ihr mutiges Handeln elf Jahre später. Obwohl die Polizei sofort eine Fahndung einleitete, wurden auch diese Täter nie gefasst. Einbrüche, ein Überfall – auf das Bergl als Wohnviertel und Platz zum Leben will sie dennoch nichts kommen lassen, denn "Das Bergl ist viel besser als sein Ruf", so ihre Meinung.
Und wieder bimmelt die Türglocke, eine Karte für den Bus und Zigaretten wechseln den Besitzer, es gibt Small Talk über Wehwehchen, aber auch über die Ausbildung der Kinder. Überhaupt Zigaretten: "Ich habe noch nie eine Zigarette geraucht", meint sie schmunzelnd und doch kennt sie sich bestens in der Welt des Tabakerzeugnisse aus. Früher, als die Vertreter noch rumgingen und neue Marken verkaufen wollten, sei sie oft gedrängt worden "Probieren Sie doch mal eine". "Wegen Ihnen fange ich nicht mit dem Rauchen an", war ihre Standard-Antwort, so ist es bis heute geblieben.
Wie lange noch? - Wer weiß das schon?
So öffnet sie weiter jeden Tag um 7.15 Uhr ihre Ladentür, nur den Dienstagnachmittag hat sie für sich. Wie lange sie das noch machen will, sie weiß es nicht. Schlimm sei immer, wenn Kunden, die man jahrzehntelang gekannt hat, sterben, oder es nicht mehr alleine schaffen und in ein Seniorenheim müssen. Gut möglich, dass sie selbst weitermacht, bis es aus irgendeinem Grunde nicht mehr geht. Die kleine Bimmel an der Tür hat noch lange nicht Ruh'.
Geöffnet ist der Lotto- und Schreibwaren-Laden Montag, Mittwoch und Freitag von 7.15 bis 12.30 Uhr und von 14 bis 18 Uhr. Dienstag nur von 7.15 bis 12.30 Uhr, Freitag durchgehend von 7.15 Uhr bis 18 Uhr und am Samstag von 7.15 bis 13 Uhr.