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Schweinfurt
Beim Denken bewegen, beim Bewegen denken
Wer kennt das nicht: Frontalunterricht, stures Pauken, nach der Schulaufgabe ist alles vergessen. Die Rathenau-Schulen gehen neue Wege. Wie sie die Schule neu denken.
Ein englisches Verb sagen und gleichzeitig durch Bewegung darstellen: Englischlehrerin Eva Eichelbrönner (rechts) unterrichtet in der Walter-Rathenau-Realschule eine fünfte Klasse nach dem Konzept 'Schule in Bewegung'.
Foto: Oliver Schikora | Ein englisches Verb sagen und gleichzeitig durch Bewegung darstellen: Englischlehrerin Eva Eichelbrönner (rechts) unterrichtet in der Walter-Rathenau-Realschule eine fünfte Klasse nach dem Konzept "Schule in Bewegung".
Oliver Schikora
 |  aktualisiert: 07.04.2020 12:28 Uhr

Ein ganz normaler Dienstag Morgen an der Walther-Rathenau-Realschule, Klasse 5b, Deutschunterricht bei Petra Stadler. Während in den anderen Klassen entlang des Flurs die Schüler an ihren Tischen sitzend lernen, laufen Stadlers Schüler ruhig auf dem Gang auf und ab, in der Hand einen Zettel mit einem Bild eines Tieres. Sie überlegen, wie sie ihr Tier beschreiben könnten.

Nach gut fünf Minuten geht's wieder in das Klassenzimmer, an der Wand der kluge Spruch: "Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Hört man damit auf, treibt man zurück." Die Kinder setzen sich nicht, sie nehmen sich ein geschwungenes, blaues Plastikboard, auf dem man balancieren muss, um ruhig zu stehen. Sie sollen ihre Bilder beschreiben, wer's weiß, meldet sich. "Mein Tier ist der König unter den Tieren und hat eine große Mähne" - der Löwe war's. Die nächste Beschreibung auf dem Board balancierend: "Er kann sich gut Fliegen fangen und seine Farbe wechseln." Ja, kann nur ein Chamäleon sein.

Diese Balance-Boards hat die Walter-Rathenau-Schule angeschafft, sie werden im Unterricht oft eingesetzt.
Foto: Oliver Schikora | Diese Balance-Boards hat die Walter-Rathenau-Schule angeschafft, sie werden im Unterricht oft eingesetzt.

Während man sich bei der Frage ertappt, wann denn der klassische Frontalunterricht los geht, hat Stadler die Klasse blitzgeschwind die Boards aufräumen lassen und ist zur nächsten Lernen-durch-Bewegung-Übung übergegangen. Die Kinder stehen, haben die Augen geschlossen, eines beschreibt sein Tier mit einem Adjektiv. Wer's weiß, klatscht, sagt's, geht in die Hocke und ruft einen anderen auf, sein Tier zu beschreiben.

Mit dabei beim Unterrichtsbesuch ist Oliver Kunkel. Er unterrichtet Musik, Geographie und Sozialkunde, als Leiter der jährlichen Chorkonzerte der Rathenau-Schüler im Theater ist er bekannt. Kunkel lächelt, wenn er zuschaut, mit welchem Eifer die Fünftklässler die neue Art zu lernen annehmen. Es war ein langer Weg und ist ein andauernder Prozess, den Kunkel mit seinen Kollegen angestoßen hat. Aber, davon ist er zutiefst überzeugt, einer, der die Walther-Rathenau-Schulen in die Zukunft führen wird als eine Schule, in der Lernen völlig neu gedacht wird. 

Die Schließungspläne 2016 als Startschuss für die Schulentwicklung

Man muss ein paar Jahre zurück gehen zu einem für die Schule einschneidenden Erlebnis, um den Prozess zu verstehen. Die Rathenau-Schulen sind insoweit etwas Besonderes, als sie eine komplett städtische Schule sind, sprich die Stadt nicht nur als Sachkostenträger agiert sondern als Schulaufwandsträger. 2016 entwickelte die Stadtverwaltung ein Konzept, das Gymnasium bis 2024 zu schließen und die Realschule mit der Schonunger Realschule im Gebäude der Rathenau-Schulen zu verschmelzen. Es gab lautstarken Protest und eine Solidaritätswelle für die Rathenau-Schulen - extern wie intern. Als im gleichen Sommer das Kultusministerium verkündete, wieder vom G8 zum G9 zurück zu kehren, änderte sich die Prämisse. Oberbürgermeister Sebastian Remelé entschied,die Pläne nicht weiter zu verfolgen und zu beobachten, wie sich die Situation aufgrund der Rückkehr zum G9 entwickelt.

Wie versinnbildlicht man das englische Verb 'look' am besten? In dem man so tut, als 'schaut' man durch eine Brille.
Foto: Oliver Schikora | Wie versinnbildlicht man das englische Verb "look" am besten? In dem man so tut, als "schaut" man durch eine Brille.

Das war der Anstoß für das Kollegium, sich zu überlegen, wie man die Schule weiterentwickelt. Sie glänzt schon durch überdurchschnittlich viele Aktivitäten, ist unter anderem Fair-Trade-Schule, bietet Astronomie-Kurse, hat Tablet-Klassen, ist Schule ohne Rassismus. Kunkel wollte aber mehr: "Schule ist der Ort, an dem wir das Lernen lernen. Wir nehmen den Schülern die Last des Lernens nicht ab, wir unterstützen sie aber dabei mit neuen Wegen."

Lernen und Bewegen gehören zusammen

Kunkel und Petra Stadler setzten sich also mit einigen Kollegen zusammen, entwickelten das Konzept "Schule in Bewegung" und haben die Schulleitung um Rektor Ulrich Wittmann auf ihrer Seite. Zu Grunde liegt eine bekannte, aber zu wenig genutzte Erkenntnis: Psychische Gesundheit, physische Fitness und intellektuelle Entwicklung sind voneinander abhängig. Der Ausgeglichene lernt besser, wer glücklich ist, merkt sich Dinge besser, wer Sport treibt, lernt besser.

"Schule ist der Ort, an dem wir das Lernen lernen."
Rathenau-Lehrer Oliver Kunkel.

Es gibt hunderte wissenschaftliche Studien in Europa, Asien und den USA, unter anderem aus der Gehirnforschung, die diese Zusammenhänge beweisen. Für Oliver Kunkel und seine Kollegen war schnell klar, dass sie das Lernen in ihrer Schule anders denken wollen - Bewegung nicht nur in Sport oder in Musik, sondern immer, wenn es sich anbietet. Die Schüler sollen empathisch, psychisch, haptisch, motorisch und intellektuell gefördert werden, egal, ob die Fächer Deutsch, Mathe, Latein, Sozialkunde oder Sport heißen und egal, welche Altersstufe.

Und: Es ist ein ganzheitliches Konzept, denn es geht nicht nur um Bewegen und Lernen, es geht auch um Achtsamkeit, um Empathie füreinander und einen respektvollen Umgang miteinander. Deswegen sind im Unterricht auch immer wieder kurze Entspannungsphasen eingebaut, kleine Meditations-Übungen.

Das neue Lern-Konzept - in dieser Form in Unterfranken einzigartig - ist wissenschaftlich fundiert aufgebaut, wurde dem Kollegium bei zwei pädagogischen Projekttagen von einem Wissenschaftler vorgestellt und dann in einzelnen Gruppen für verschiedene Fächer weiterentwickelt. Es wird dauerhaft durch eine Professorin der Uni Würzburg begleitet. Seit Anfang des Schuljahres läuft das Projekt, jedem Lehrer ist es freigestellt, sich zu beteiligen. Im Moment unterrichten gut 20 Prozent der Lehrkräfte immer dann, wenn es Lehrplan und Stoff erlauben, nach neuer Methodik.

Direktor Wittmann ist ob der Initiative aus dem Kollegium heraus erfreut: "Es ist eine sehr interessante Entwicklung für unsere Schule, etwas Lohnendes." Dass man nicht einfach von heute auf morgen alles in Frage stellt, sondern die neue Methodik sich entwickeln lässt, hält Wittmann für wichtig in Sache Akzeptanz: "So kann man die Kollegen gut mitnehmen, davon überzeugen, dass es funktioniert."

Balancieren und Rechnen: Lukas Schwarz mit einer fünften Klasse am Walter-Rathenau-Gymnasium in Aktion.
Foto: Oliver Schikora | Balancieren und Rechnen: Lukas Schwarz mit einer fünften Klasse am Walter-Rathenau-Gymnasium in Aktion.

Denn natürlich ist es so, dass man nicht immer und grundsätzlich balancierend oder laufend Stoff vermitteln kann. Es gibt Situationen, in denen müssen Dinge schlicht am Tisch sitzend vom Lehrer an die Tafel und vom Schüler ins Heft geschrieben werden. Und dann gibt es Situationen, wo man das Aufgeschriebene sich bewegend viel besser einprägen kann.

Tennisbälle und Reflexivpronomen

Den nächsten Beweis gibt's gegen 9 Uhr, die weiteren Stationen erst bei Klaus Gessner, danach bei Eva Eichelbrönner, beides Mal Englisch, einmal achte, einmal fünfte Klasse Realschule. Die Achtklässler üben Sätze mit Reflexivpronomen, werfen sich dabei Tennisbälle zu, balancieren auf Boards oder Balken. Sie sind konzentriert bei der Sache, von wegen pubertierende Null-Bock-Generation. Ein paar Minuten später, wieder die fünfte Klasse vom Morgen. Verben üben - aussprechen und gestikulierend beschreiben. Bei "look", "schauen", deuten alle mit ihren Händen eine Brille im Gesicht an.

Selbst Mathe und Bewegung gehen zusammen wie Fußball und Tor. Lukas Schwarz unterrichtet die 5a im Gymnasium und wenn es ans Malnehmen geht, dann geht er erstmal mit einer kleinen Gruppe raus in den Flur, rauf aufs runde Balancier-Board, Hände in die Luft und los geht's.

Auch bei der Tablet-Klasse der Walter-Rathenau-Schule wird Wert auf Bewegung gelegt, die Schüler suchten sich für eine Gemeinschaftsaufgabe einen anderen Platz als den normalen Tisch.
Foto: Oliver Schikora | Auch bei der Tablet-Klasse der Walter-Rathenau-Schule wird Wert auf Bewegung gelegt, die Schüler suchten sich für eine Gemeinschaftsaufgabe einen anderen Platz als den normalen Tisch.

Die Schüler danken das Konzept, egal in welcher Alterstufe. Die Fünftklässler erzählen mit Begeisterung, was sie auch privat daheim alles sich bewegend lernen. Die Elftklässler, mit denen Oliver Kunkel in Sozialkunde mal schnell den Aufbau einer funktionierenden Demokratie mit Stöckchen und Grashalmen auf dem Schuttberg gleich nebenan im Freien stehend übt, vergleichen ihren Unterricht aus der fünften Klasse und heute und sind wie Vivienne überzeugt: "Man sieht es viel klarer, kann es besser erarbeiten und auf seine eigene Weise lernen." 

Mal geschwind ein wenig Demokratie-Unterricht im Freien: Sozialkunde-Lehrer Oliver Kunkel mit seiner elften Klasse vom Walter-Rathenau-Gymnasium in Aktion auf dem Schuttberg.
Foto: Oliver Schikora | Mal geschwind ein wenig Demokratie-Unterricht im Freien: Sozialkunde-Lehrer Oliver Kunkel mit seiner elften Klasse vom Walter-Rathenau-Gymnasium in Aktion auf dem Schuttberg.

Auch von Seiten der Lehrer gibt es positives Feedback, nicht nur von der jungen Riege, sondern auch von den "alten Hasen". Klaus Gessner geht Ende des Schuljahres in Rente, doch nach 31 Jahren als Lehrer wollte er noch einmal etwas Neues ausprobieren. Bereut hat er es nicht, denn eines war ihm als Sport- und Englischlehrer immer klar: Kinder von acht bis 13 Uhr zum Stillsitzen und Lernen zu zwingen, "das kann es nicht sein." "Ich hoffe, dass es weitergeht und noch mehr Kollegen mit aufspringen und es in ihren Unterricht mit einbauen." Die Aussichten dafür sind gut. Genauso wie für die Zukunft der Rathenau-Schulen als Gymnasium und Realschule, die das Lernen völlig neu denkt.

 
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