Besuch im Wohnheim der Schweinfurter Lebenshilfe, bei Rudi Vogtmann. Er dürfte einer der letzten lebenden Zeitzeugen sein, die von der Verfolgung behinderter Menschen während der NS-Herrschaft erzählen können.
Der 91-Jährige hat von Geburt an eine zerebrale Bewegungsstörung, die auch sein Sprechvermögen erheblich beeinträchtigt. Er ist zwar voll geschäftsfähig, aber bei Erledigungen, die er wegen der Einschränkungen nicht selbst in die Hand nehmen kann, hilft ihm seine langjährige Betreuerin Gudrun Schneider.
In Schweinfurt als Dreiradfahrer bekannt und in der Welt unterwegs
Mit Josef Rauschmann, dem ehemaligen Vorsitzenden der Schweinfurter Lebenshilfe, ist Gudrun Schneider zum kleinen Plausch mit Rudi vorbeigekommen. Der alte Herr hat sein gemütliches Zimmer nach seinem Geschmack eingerichtet, vollgestopft mit Büchern, Zeitungen, Fotos, Urkunden und Souvenirs von seinen vielen Reisen und Exkursionen.
Rudi Vogtmann liest gerne und liebt Musiksendungen, Dokumentarfilme und Wissenschaftsbeiträge im Fernsehen. "Als er Anfang der 1980er Jahre zu uns kam", erinnert sich Josef Rauschmann, "war er geistig für alles aufnahmefähig. Er hat über alle möglichen Dinge diskutiert. Und er war als Dreiradfahrer bekannt, der mit seinem Vehikel durch die Stadt gedüst ist." Gudrun Schneider nickt. "Der Rudi war sehr viel unterwegs auf Freizeiten und auf Bildungsreisen, er war sogar in Tansania."
Mit fünf Jahren in die Pflegeanstalt Bruckberg gekommen
Die verarmten Eltern in einem mittelfränkischen Dorf Anfang der 1930er Jahre waren nicht in der Lage, sich um den kleinen Rudi zu kümmern. Es gab nur einen Lichtblick am Horizont: Als Fünfjähriger fand er 1938 in der Pflegeanstalt Bruckberg des Diakonischen Werks Neuendettelsau im Landkreis Ansbach ein Zuhause.
Die Jahre dort waren allerdings alles andere als sicher. Nationalsozialistische Rassenfanatiker machten sich nach 1933 an die konkrete Umsetzung dessen, was zwei Wissenschaftler, der Psychiater Erich Hoche und der Strafrechtler Karl Binding, bereits 1920 in einem schmalen Büchlein an Gedanken in die Welt gesetzt hatten. In "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – Ihr Maß und ihre Form" heißt es, dem Staat müsse das Recht zugesprochen werden, "das Leben schwerbehinderter Menschen, (...) nicht nur absolut wertloser, sondern negativ zu wertender Existenzen, (…) gegebenenfalls auch ohne deren Einwilligung, zu vernichten."
Und weiter: "Die Frage, ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzen notwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstands nicht dringend; jetzt ist es anders geworden."
Nicht dabei auf der Busfahrt für "Ballastexistenzen"
Auch Rudi Vogtmann drohte die Einstufung als "Ballastexistenz". Er erinnert sich an ein außergewöhnliches Ereignis im Frühjahr 1941: Die Kinder auf seiner Station zogen eines Morgens alle ihre Mäntel an und gingen zu im Hof wartenden Bussen: "Ich hab nicht, gewusst, wohin die fuhren. Ich hab meinen Mantel angezogen, der draußen im Gang hing, und wollte mit. Aber die Schwestern haben mich zurückgehalten: 'Nein, zieh deinen Mantel wieder aus, Du kannst nicht mitfahren'."
Konkreteres über das, was an diesem Tag geschah, erfuhr Rudi Vogtmann nie.
"Aktion T 4" Deportationen aus Behinderteneinrichtungen in Tötungsanstalten
Die Neuendettelsauer Diakonie war damals die größte evangelische Behinderteneinrichtung in Bayern. Im Rahmen der Maßnahmen, die zynisch "Euthanasie" nach der altgriechischen Bezeichnung für "guter Tod" genannt wurden, deportierte man über 1200 Menschen aus den Anstalten. Die genaue Zahl steht nicht fest. In der ersten Phase wurden über 430 Menschen in der geheimen Tötungsanstalt Hartheim bei Linz ermordet, etwa 490 kamen in der zweiten Phase der Maßnahme in den staatlichen Heil- und Pflegeanstalten ums Leben.
Die Selektion der Menschen, deren Existenz von den NS-Behörden als unwert eingestuft wurde, nahm 1940 in Deutschland und in den besetzten Gebieten die Form eines systematischen Massenmords an. Nach dem Krieg wurde dieser Massenmord unter der Bezeichnung "Aktion T 4" bekannt - benannt nach der Adresse der Berliner Zentraldienststelle des Geheimunternehmens: Tiergartenstraße 4.
Den Krankenmorden fielen bis 1945 über 200.000 Menschen zum Opfer. Die Aktion T 4 wurde im August 1941 eingestellt. In den Heil- und Pflegeanstalten mordete man weiter. Viele der Behinderten wurden durch die sogenannte B-Kost systematisch getötet – sie verhungerten. Andere kamen durch Spritzen mit Luminal ums Leben.
Im Archiv der Neuendettelsauer Diakonie gibt es die Akte "Pflegling Rudi Vogtmann"
Archivar Matthias Hunold hat Akten gefunden, die über "Pflegling Rudi Vogtmann" Auskunft geben. Darin finden sich ein paar Dutzend Dokumente von 1938 bis 1973 – private Korrespondenzen und vor allem ärztliche und pflegerische Gutachten. Ein Schriftstück ist besonders brisant und könnte zur Lösung der Frage beitragen, was an jenem von Rudi erwähnten Frühlingstag 1941 geschah. Es existiert ein Personalbogen, mit dem Rudis Verlegung am 21. Mai 1941 von der Pflegeanstalt Bruckberg ins Heilerziehungsheim Neuendettelsau bestätigt wird.
Brisant ist dieses Dokument deshalb, weil im April 1941 von Reichsführer SS Heinrich Himmler gefordert wurde, 1800 Plätze in den Neuendettelsauer Anstalten für die Unterbringung alter, gebrechlicher und pflegebedürftiger Südtiroler und zudem für die Kinderlandverschickung freizumachen. Die Abteilungen Bruckberg I und II wurden beschlagnahmt. Im Zuge dieser Maßnahmen wurden auch am 21. Mai 1941 - also am Tag von Rudis Verlegung nach Neuendettelsau - 57 Bruckberger Bewohner mit Bussen nach Ansbach in die Heil- und Pflegeanstalt des Bezirks verlegt, davon 49 jünger als 14 Jahre, 14 jünger als zehn Jahre. Rudi war im April 1941 acht Jahre alt geworden, hätte also in die berüchtigte Kinderfachabteilung in Ansbach transportiert werden können.
Wie es dazu kam, dass Rudi Vogtmann nicht das Schicksal der Kinder aus der Bruckberger Anstalt teilte, hat er nie erfahren. Es kann sein, dass ihn eine vertraute Schwester beim Abtransport der anderen Kinder zur Seite genommen hat und das im allgemeinen Chaos der Stunde unterging. Einige wenige solcher spontanen Rettungen sind dokumentiert. Vielleicht aber stand der kleine Rudi auch nicht auf der Transportliste, weil man ihm genügend Nützlichkeitspotential zuschrieb.
Eine Ärztin setzte die NS-Anweisungen um
Spätestens ab 1943 wurden in der Kinderfachabteilung des Bezirkskrankenhauses Ansbach nachweislich Kinder mit Luminal ermordet. Leiterin der Abteilung war die Ärztin Dr. Irene Asam-Bruckmüller, die gleichzeitig die psychiatrische Versorgung in den Neuendettelsauer Heimen innehatte. Die Gesundheitsämter leiteten die Einweisung von Kindern in die Kinderfachabteilung ein. Ein Begutachtungsbericht wurde an den "Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" geschickt, der daraufhin nach Prüfung in den überwiegenden Fällen eine Ermächtigung zur "Behandlung", das heißt Tötung aussprach.
Der "Reichsausschuss" war der Tarnname einer Organisation des Reichsinnenministeriums, die für das Mordprogramm an behinderten Menschen, deren Lebens als "lebensunwert" galt, verantwortlich war. Nach Recherchen von Historikern unterstand Asam-Bruckmüller auch die "Kinderfachabteilung" dieses "Reichsausschusses", die vom Dezember 1942 bis März 1945 bestand.
Ein abfälliges und vernichtendes Gutachten - und andere über enorme Entwicklungsfortschritte
Ein zweites Dokument fällt dem Neuendettelsauer Archivar Matthias Hunold ins Auge, ein ärztliches Gutachten vom 8. November 1952. Geschrieben wurde es in einer bemerkenswert abfälligen Tonart: "Erziehlich ausgesprochen schwierig, bedarf ständiger Überwachung und Führung. Übt schlechten Einfluß auf seine Umgebung aus. (...) Bei der schweren körperlichen Behinderung, dem vorhandenen erheblichen Schwachsinn und den charakterlichen Abwegigkeiten sowie dem allgemein auffälligen Erscheinungsbild des Patienten kann dieser unmöglich außerhalb einer Fachanstalt gehalten werden."
Dieses Gutachten widerspricht eklatant dem Tenor anderer Gutachten, die Rudis enorme Entwicklungsfortschritte und seinen freundlichen Charakter hervorheben. Schlussendlich wird 1973 bestätigt, dass keinerlei Debilität vorliegt.
Wer aber schrieb das vernichtende Gutachten? Eben jene Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, Dr. Asam-Bruckmüller. Trotz nachgewiesener Verantwortlichkeiten der Ärztin für Euthanasiemaßnahmen in der Zeit des Nationalsozialismus praktizierte sie nach 1945 weiterhin in Neuendettelsau, ab 1963 im Gesundheitsamt Schwabach. Sie starb hochbetagt, ohne jemals für ihre Taten zur Verantwortung gezogen worden zu sein.
Rudi Vogtmann ging seinen Weg - mit Wissbegierde und Willensstärke
Ein Blick zurück im Zorn ist Rudi Vogtmann fremd. Er sieht die Menschen, die ihn förderten und die ihm vertrauten. Er ist stolz auf seine Wissbegierde und seine Willensstärke. Und er freut sich, dass er denen ein Schnippchen schlagen konnte, die prophezeiten: "Aus dir wird nix."
Im Archiv der Diakonie gibt es einen langen Briefes, den Rudi Vogtmann als 21-Jähriger in schönster Druckschrift an seine Neuendettelsauer Lieblingsdiakonisse, Schwester Else, richtete. Er beschreibt darin mit wohl erwogenen Worten und außergewöhnlich detailreich seine Eindrücke von der Vorführung eines Missionsfilms im Neudettelsauer Heim.
"Wenn's damals die Förderung gegeben hätte, die es heute gibt, ja dann!", meint Gudrun Schneider. Der 91-Jährige antwortet lapidar: "Jaja! Ich wollt' mich einfach weiterentwickeln. Mei Mutter hat immer zu mir gsagt: Du spinnst ja! Aber ich hab immer g'wusst: 'Ich mach weiter!"
Und so sitzt Rudi Vogtmann heute zufrieden in seinem Zimmer. Freut sich, wenn er mit seiner Betreuerin draußen im Gärtchen sein kann. Oder wenn Josef Rauschmann wieder einmal zum Plausch vorbeikommt.