
Christiane Huber ist Geschichtensammlerin. In ihr dickes schwarzes Buch schreibt sie die Geschichten, die ihr die Menschen erzählen – erfundene und erlebte. Christiane Huber ist außerdem Künstlerin. Im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft der kirchlichen Bahnhofsmissionen in Bayern ist sie dieser Tage mit der „Wanderbank“ von Stadt zu Stadt beziehungsweise eben von Bahnhofsmission zu Bahnhofsmission unterwegs. Stationen sind oder waren Passau, München, Ingolstadt, Aschaffenburg, Würzburg und am Dienstag und am heutigen Mittwoch Schweinfurt.
Von 7 bis 17 Uhr steht die Bank da, wer möchte, kann sich draufsetzen. Kann Christiane Huber seine Geschichte erzählen oder einfach nur ein wenig entspannen. Oder in den Handarbeitskorb greifen, den Christiane Huber mitgebracht hat, und ein wenig häkeln. Was dann oft wiederum der Anfang eines Gesprächs ist. „Ich selbst konnte gar nicht häkeln“, sagt die Künstlerin, „aber die Leute haben mir gezeigt, wie's geht.“
Hedwig Gappa-Langer ist Referentin der katholischen Bahnhofsmissionen beim Landesverband von IN VIA, der die Federführung des Projekts übernommen hat, das vom Bayerischen Sozialministerium gefördert wird: „Die Idee ist, die Menschen näher an die Bahnhofsmission zu bringen und gesellschaftliche Schranken aufzuweichen.“ Das kann ungeahnte Effekte zeitigen, etwa wenn ein Caritasdirektor auf der Bank plötzlich mit einem Arbeitslosen ins Gespräch kommt. „Leute, die einmal so eine Erfahrung gemacht haben, reagieren anders.“ Denn es ist vor allem das schnelle – negative – Urteil, das die Umwelt über sie fällt, das den Menschen zu schaffen macht, die nicht auf der Erfolgsseite des Lebens stehen.
Die Bank ist deshalb sozusagen ein Konzentrat des Angebots der Bahnhofsmissionen: „Auf der Wanderbank kann man alle Dinge tun, die man auf einer Bank gerne macht – einfach nichts tun, lesen, seine Initialen hinterlassen, Liebe schwören, reden, zuhören, ein Nickerchen machen oder sich auch mit den bereitstehenden Dingen beschäftigen“, heißt es in der Beschreibung.
Ob die Kolleginnen von der Bahnhofsmission hier so begeistert wären, wenn jemand auf ihrer Holzbank seine Initialen hinterließe, sei dahingestellt. Denn die Schweinfurter haben ihre eigene Bank. Ein pensionierter Lokführer hat sie aus gespendetem Holz gebaut und auch gleich noch zwei Räder dranmontiert. So kann die Bank schnell dahin gefahren werden, wo sie gebraucht wird.
Christiane Huber hat sie auf den breiten Bahnsteig von Gleis 1 gestellt. Ein Schild erklärt, welche Bewandtnis es mit ihr hat. Eine Häkeldecke aus lauter kleinen Quadraten gibt es schon – in der Schweinfurter Bahnhofsmission wird immer schon gerne gehäkelt. Das gilt auch für Sven Kaiser, der drinnen an einem Häkelquadrat arbeitet und dazu Kaffee trinkt. Sven Kaiser lebt seit Wochen in seinem Auto. Arbeit, Freundin, Wohnung hat er verloren. „In sechs Monaten ist mein Leben total zerbröselt“, sagt er, „und wenn du einmal in den Gully reinfällst, schlägst du an jeder Biegung auf, bis du endlich unten angekommen bist.“ In der Schweinfurter Bahnhofsmission hat er einen Platz gefunden, wo er ein paar Stunden am Tag rumkriegen kann, vor allem aber einen Platz, wo man ihm zuhört, ohne ihn als Versager abzustempeln, wo es menschliche und physische Wärme für ihn gibt.
Und so ist der Sturz in den Gully gestoppt worden. Sven Kaiser hat jetzt wieder die Kraft, sein Leben in die Hand zu nehmen. Er hat Arbeit und eine Wohnung in Aussicht. Einmal die Woche will er aber weiterhin in die Bahnhofsmission kommen und an seiner Decke häkeln. Wenn sie fertig ist, will er sie der Bahnhofsmission gegen eine Spende abkaufen. „In meiner Wohnung soll sie mich dann an diese Zeit erinnern“, sagt Sven Kaiser und beugt sich wieder über seine Häkelarbeit.
Christiane Huber hat seit 2008 immer wieder Kreativprojekte für die bayerischen Bahnhofsmissionen umgesetzt. Mit der Dokumentarfilmerin Sanne Kurz wird sie Geschichten und Gespräche festhalten, es wird auch eine Ausstellung geben.
„Die Bank ist für viele Menschen ein unsichtbarer Ort, aber wer ihn braucht, der sieht ihn“, sagt Christiane Huber. Ihr schwarzes Buch wird bald voll sein. Darin steht die Geschichte der Menschen aus Bulgarien, die mit einem Koffer voll heimischer Verpflegung anreisen, nachts unter Brücken schlafen und tagsüber schuften, damit die Kinder daheim studieren können. Oder die Geschichte des Bulgaren und des Ghanaers, die in einer Art Zweckfreundschaft seit Jahren durch Europa reisen und da bleiben, wo sie Arbeit finden. Oder die Geschichte des Mannes, dem sein Hund das Leben gerettet hat, weil er zum allerersten Mal überhaupt bellte und damit Hilfe holte, als sein Herrchen einen Schlaganfall erlitt. Oder die Geschichte der Frau, die in ihrem Elektrorollstuhl durch halb Deutschland tuckert, weil sie's im Pflegeheim nicht aushält. Und die Geschichte von Sven Kaiser, der ganz unten war und beim Häkeln wieder Hoffnung für sein Leben gefunden hat.
Die Wanderbank steht noch mal am heutigen Mittwoch von 7 bis 17 Uhr am Schweinfurter Bahnhof für Gespräche bereit. Am Freitag, 12. September, wird das Projekt im Rahmen eines ökumenischen Gottesdienstes um 13 Uhr in der Bahnhofshalle präsentiert.