zurück
MEININGEN
Auf die Zunge gelegt
Das Verfahren: Matthias Herold in der Rolle des vom Leben enttäuschten ehemaligen DDR-Chemikers.
Foto: Foto Ed | Das Verfahren: Matthias Herold in der Rolle des vom Leben enttäuschten ehemaligen DDR-Chemikers.
Von unserem Mitarbeiter Siggi Seuß
 |  aktualisiert: 07.11.2019 21:46 Uhr

Viele, viele kluge Sätze werden gesprochen, um den Werdegang eines deutschen Opportunisten bis zum bitteren Ende zu dokumentieren, in Reinhard Kuhnerts Ein-Personen-Stück „Das Verfahren“, uraufgeführt 1991. Jetzt, zum 25. Jahrestag der deutschen Einheit, hat es Elke Büchner auf der Bühne der Meininger Kammerspiele inszeniert und – es lässt den Kritiker eigentümlich kalt.

Warum nur? Da kehrt ein offensichtlich depressiver und vom Leben enttäuschter ehemaliger DDR-Chemiker – dargestellt von Matthias Herold – sein Innerstes nach außen. Vor dem Zuschauer, vor seinem Psychiater, vor beiden? Egal. Er befindet sich in einem weiß getünchten Raum voller gestapelter Umzugskartons und Truhen (Ausstattung: Helge Ullmann), die der Mann in den nächsten 90 Minuten pausenlos öffnen, schließen und umräumen wird, während er zur Entspannung über Kopfhörer immer wieder Musik von Mozart hört. In den Schachteln befinden sich Erinnerungsstücke aus seinem Leben, vornehmlich aus seiner Kindheit. Wenn man denn konkrete Fixpunkte für die Geschichte bräuchte, könnte das Zimmer so etwas wie der therapeutische Spielraum einer psychiatrischen Klinik sein.

Wenn der Wissenschaftler beim Räumen nicht Musik hört, muss er reden. Und zwar wie es im Buche steht. Sonst könnte er die Textmenge gar nicht bewältigen, die ihm Autor Kuhnert auf die Zunge legt. Und hier beginnt das große Dilemma des Stückes, das weder Regisseurin noch Schauspieler beheben können. So wie Kuhnert seinen Protagonisten reden lässt, spricht kein leibhaftiger Mensch. Der Mann erzählt, analysiert, kommentiert, jammert und rechtfertigt sich in einem fort, und zwar so druckreif plakativ, dass man glaubt, hier spräche eine lebende Litfaßsäule. Das mindert nicht nur die Begreifbarkeit der konkreten Sätze, verschleißt nicht nur in Kürze die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Noch schlimmer: Es legt die Kapazitäten des Schauspielers lahm, weil er in einer solchen Rolle kaum Gelegenheit hat, den Charakter glaubwürdig lebendig zu gestalten. So bleibt der Mann eine Projektionsfigur, wie die projizierten Kindheitsbilder an der Wand. Da gibt es keine nachvollziehbare Stille, kein Grübeln, kein Stocken, keine Atempausen – und wenn, dann nur künstlich gesetzte –, da geht es vorrangig um Transport der Erkenntnisse des Autors. Das ganze Stück scheint ein einziges Pamphlet zur Darstellung eines deutschen Wesenszuges zu sein.

Dabei leuchtet das Hauptmotiv des Mannes, sich zu offenbaren, durchaus ein: Er leidet unter gewaltigen Schuldgefühlen. Zusammen mit einem Kollegen hatte er in der DDR jahrelang ein chemisches Verfahren entwickelt, das trotz seiner Qualität aus politischen Gründen im Papierkorb verschwand. Der Mann drehte danach sein Fähnchen nach dem Wind und rechtfertigte offiziell die Entscheidung gegen sein eigenes Lebenswerk, während sein Kollege das Geschehen nicht verkraftete und sich das Leben nahm.

So präzise der Werdegang eines sich selbst bemitleidenden Opportunisten von Kuhnert beobachtet und beschrieben wird, so wenig eignet sich der Stoff in dieser Form für das Theater. Erinnerungen werden wach an Rolf Hochhuths unsäglich plakative Meininger Inszenierung der „Wessis in Weimar“, aber auch an ein anderes Stück aus der Feder Reinhard Kuhnerts, „Circus Germanicus“, 2001 in Erfurt uraufgeführt. Das Urteil des Kritikers damals: „Die Botschaften dringen gnadenlos Richtung Zuschauer. Kluge und bedeutende Sätze sprudeln in einem Übermaß, dass selbst Grimassen und Bewegungskomik der Schauspieler kaum Linderung verschaffen.“ Manche Bühnenfiguren führen ein ganz schön zähes Leben.

Nächste Vorstellung: 18. Dezember, 20 Uhr. Karten: Tel. (0 36 93) 451 222, www.das-meininger-theater.de

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Schweinfurt
Kritiker
Rolf Hochhuth
Wolfgang Amadeus Mozart
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top