Das Schlagwort Inklusion ist in vieler Munde, aber der Grundgedanke, „selbstverständlich mittendrin zu sein“, stößt in der Praxis nach wie vor auf hohe Hürden. Dass Menschen mit Behinderungen und anderen Beeinträchtigungen nicht vom „normalen“ gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden sollen, darüber herrscht oft große Einigkeit – nur wie lässt's sich machen?
Vor allem darum ging es am Dienstag bei einer Informations- und Diskussionsveranstaltung der Lebenshilfe Schweinfurt. Der Verein hatte in die Rathausdiele geladen und mit dem kühlen Gemäuer bei gut 30 Grad Außentemperatur genau die richtige Wahl getroffen. Rund 40 Zuhörer, darunter auch Kommunalpolitiker, waren zu der unter Schirmherrschaft von OB Sebastian Remelé stehenden Veranstaltung gekommen, die das Motto „Leben in der Gemeinde – Chance und Herausforderung für alle“ hatte. Moderiert wurde der Abend vom Main-Post-Journalisten Torsten Schleicher (Würzburg).
Gut beraten waren die Veranstalter, nicht nur über die Betroffenen zu diskutieren, sondern auch Menschen mit Behinderungen zu Wort kommen und ihre Erfahrungen schildern zu lassen. Aus dem hohen Norden, aus Lübeck, war so Joachim Busch angereist, seit 2005 Mitglied im Rat behinderter Menschen der Bundesvereinigung der Lebenshilfe. In einer Powerpoint-Präsentation brachte Busch Beispiele aus seinem eigenen, trotz Behinderung selbstbestimmten Leben. Busch wohnt mit seiner Lebensgefährtin in einer eigenen Wohnung, was für behinderte Menschen nach wie vor keine Selbstverständlichkeit ist. „Dort kann man alles selbst gestalten“, nannte er einen der wichtigsten Vorzüge. Aber auch Wohnquartiere, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen zusammenkommen, oder Wohngemeinschaften seien Chancen für ein weitgehend selbstbestimmtes Leben.
Diese Erfahrung macht auch Klaus Friedel, der bei der Lebenshilfe Schweinfurt ein ambulantes unterstütztes Wohnen organisiert. Auf diese Weise habe man in Schweinfurt schon über 80 Wohnungen für Behinderte finden können, berichtete er, wenn auch die derzeit angespannte Wohnungslage dem Projekt Grenzen setze.
Auf welche Barrieren Behinderte auch in Schweinfurt noch stoßen, darüber berichtete German Saam, Vorsitzender des Schweinfurter Behindertenbeirates. Von fehlenden Handläufen bis hin zu holprigem Pflaster reiche die Liste ärgerlicher Behinderungen, informierte er und appellierte an OB Remelé, beim Abbau von Barrieren nicht nachzulassen.
Die Forderung nach Inklusion stellt indes auch die Schweinfurter Lebenshilfe vor gewaltige Herausforderungen. Der Verein setzt deshalb auf Vernetzung, und das gleich in mehreren Bereichen. Rita Weber, Leiterin der Offenen Hilfen, informierte so über das seit einem Jahr existierende Freizeitnetzwerk, das auf die Zusammenarbeit mit Vereinen und Verbänden setzt, um behinderten Menschen Zugang zum normalen Vereinsleben zu verschaffen. Oft handle es sich lediglich um ein Kommunikationsproblem: Der Behinderte weiß nicht, wie er sich an einen Verein wenden soll, und der Verein hat keine Ahnung, dass da ganz in der Nähe jemand ist, der gern mitmachen würde, wenn's um Sport und Spiel oder die Vorbereitung des Vereinsfestes geht. Da greift dann das Netzwerk.
Auf ein ähnliches Prinzip setzt auch das Projekt „Sozialraumorientierte Arbeitsplätze“, das Peter Pratsch (Lebenshilfe) leitet. Was etwas sperrig klingt, bedeutet nicht weniger, als das Menschen mit Behinderungen Jobs oder wenigstens Praktika in ihrem sozialen Umfeld finden können und dass die Wahl der Berufe nicht allein schon wegen der Beeinträchtigung der Interessenten eingeschränkt ist. Ein positives Beispiel gab auf dem Podium im Rathaus die 19-jährige Sandra Tolga, die durch Vermittlung der Lebenshilfe ihren Traumjob Friseurin zurzeit schon mal per Praktikum kennenlernen kann und im Team des Friseursalons gut aufgenommen wurde.
Wie Behinderte ganz unbürokratisch spannende Freizeitaktivitäten erleben können, das zeigt das Projekt „Zeitungsgruppe“ der Offenen Behindertenarbeit der Diakonie Schweinfurt. In Kooperation mit der Main-Post haben so schon dreimal Mitarbeiter der Gruppe von den Paralympics berichtet: 2004 aus Athen, 2008 aus Peking und 2012 aus London. „Das war spannend. Wir sind zu Pressekonferenzen gegangen und konnten mit den Goldmedaillengewinnern sprechen“, berichtete so Benjamin Schwarz, der gemeinsam mit seinem Zeitungsgruppen-Kollegen Thomas Falk im blauen Paralympics-T-Shirt auf dem Podium saß. Projektleiter Reinhold Stiller lobte bei dieser Gelegenheit die gute Zusammenarbeit mit der Main-Post, in der die Beiträge der begeisterten Hobby-Journalisten erschienen waren.
Das Motto des Abends – „Leben in der Gemeinde“ – ist im Arnsteiner Ortsteil Binsfeld schon ein Stück weit Wirklichkeit, wie Franz-Josef Sauer, Arnsteiner Stadtrat und Vorsitzender des Trägervereins „Ein Dorf für alle“ berichtete. In dem 400-Seelen-Ort schaffe man derzeit die Voraussetzungen dafür, dass nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern auch Senioren mit den üblichen Beschwerden des Alters auch künftig in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können. „Wir sind da ein Pilotprojekt“, erläuterte er. Getragen werde die Arbeit des Vereins, der bereits ein Mehrgenerationenhaus geschaffen hat, unter anderem über das Städtebau-Förderprogramm „Soziale Stadt“. Fazit des Abends: Das gemeinsame Leben in der Gemeinde lässt sich durchaus organisieren – und Ideen, die von der Basis kommen, sind nicht die schlechtesten.