Erst einmal sacken lassen.“ Heike Pfeiffer schließt die Tür zu ihrem Büro und atmet durch. Die Dolmetscherin hat sich zum Rauchen nach draußen verabschiedet, der junge Mann, dessen Lebensgeschichte Heike Pfeiffer jetzt kennt, ist um die Ecke verschwunden. Hunger hat er, um zwei schließt in der Erstaufnahmeeinrichtung die Kantine. Aber er muss noch ein Dokument für Pfeiffers Unterlagen aus seinem Zimmer holen und zum Kopieren vorbeibringen. „Heute Nachmittag?“ Pfeiffers Antwort ist leise, aber deutlich: „Besser jetzt gleich. Bevor was dazwischenkommt.“
Kleines Büro, nervöser Flüchtling, lächelnde Dolmetscherin
Drei Stunden vorher hat Heike Pfeiffer den jungen Mann aus Somalia aus dem vollen Warteraum abgeholt und in ihr kühles Büro mitgenommen. Sie kennt seinen Namen, kennt seine Reiseroute – mehr weiß sie nicht über den schmächtigen Mann, der ihr jetzt gegenübersitzt, sichtlich nervös. Immer wieder reibt er sich mit den Handflächen über Stirn und Wangen, wippt mit den Füßen. Stottert. Die Dolmetscherin lächelt und nickt ihm aufmunternd zu. Heike Pfeiffer fragt, ob er sich heute gesundheitlich in der Lage fühlt für das, was jetzt kommt. Dann beginnt sie, in den Computer zu tippen.
Von diesem Termin hängt die Zukunft ab
Ein normaler Arbeitstag für die 53-jährige Juristin vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) in Schweinfurt. Der wichtigste Tag für den jungen Somali, seit er vor kaum einem Monat nach Deutschland kam, ohne Pass, illegal mit dem Zug aus Italien. Vom Termin in Pfeiffers Büro hängt seine Zukunft ab: Anhörung im Asylverfahren. Es ist meist die einzige Begegnung zwischen Flüchtling und Entscheiderin. Wer in Deutschland um Schutz bittet, muss hier glaubhaft machen, in seiner Heimat gefährdet zu sein. In den nächsten Stunden wird Heike Pfeiffer erst strukturiert einen Fragekatalog zu persönlichen Daten und der Fluchtroute durchgehen, viel zuhören. Und prüfen, ob der Vortrag glaubhaft ist.
Was ist die Wahrheit?
Was der Flüchtling heute sagt, gilt. Was heute nicht gesagt wird, kann später kaum mehr berücksichtigt werden. Er solle bei der Wahrheit bleiben, sagt Heike Pfeiffer und schaut den jungen Mann an: „Es ist weniger schlimm, etwas nicht zu wissen, als nicht die Wahrheit zu sagen.“ Die Dolmetscherin übersetzt, der Somali stützt sich auf die Tischplatte und neigt den Kopf.
„Er hat gesagt, er ist 18“, sagt die Dolmetscherin. „Hier steht 21“, sagt Heike Pfeiffer. Irritation, Nachfrage. Er habe in München ein Schreiben bekommenen, sagt der Somali. Eine Altersfeststellung vom Jugendamt? Es ist das Papier, das Heike Pfeiffer später kopieren und zu den Unterlagen legen will. „Er möchte bitte seine Clan-Zugehörigkeit darlegen, von der obersten bis zur untersten.“
Fragen zur Familie, zur Lebenssituation, zum Fluchtweg
Pfeiffer redet leise, tippt, ihr Blick wechselt zwischen Bildschirm und Antragsteller. Wie wird man Zugehöriger eines Clans? Wo liegt das Dorf, in dem Sie gelebt haben? Beschreiben Sie doch bitte mal, wie es da aussah. Mit wem haben Sie da gewohnt?
Der Somali antwortet. Mutter, ein jüngerer Bruder, eine kleine Schwester. Vater 2016 getötet von al-Shabaab. Zwei Brunnen, zwei Moscheen, ein berühmter Berg. Der 18-Jährige erzählt stockend, die Stimme bricht. Die Dolmetscherin fragt geduldig nach, bemüht sich, richtig zu verstehen. Und überträgt eins zu eins. „Ich weiß, dass es eine Schule gibt, aber dort war ich nicht.“ Die Übersetzerin lächelt. „Es gibt einen Strand, weil in der Nähe ein Meer ist. Aber er war noch nie da.“
Wann haben Sie Ihr Heimatland verlassen? Was hat die Flucht gekostet?
Wann haben Sie Ihr Heimatdorf verlassen? Der Flüchtling nennt den Tag. Wann Ihr Land? Einen Tag später. Dazwischen liegt eine Nacht in Mogadischu. Durch welche Länder ging Ihre Reise? Wie sind Sie von wo nach wo gekommen? Wie viel hat Ihre Flucht gekostet und wie haben Sie das finanziert?
Der junge Somali reibt sich mit den Handflächen wieder die Wangen, rutscht auf seinem Sitz hin und her. Und erzählt. Von Schleppern. Vom Autowechsel in Kenia, im Sudan. Von einer schlimmen Zeit in Libyen. Dass er dort seine Mutter angerufen habe. Dass sie dann das Haus der Familie verkaufte, weil er 3000 Dollar brauchte. Er erzählt vom Schlauchboot auf dem Mittelmeer. „Im Juli bin ich in Italien angekommen. Dann habe ich mich im Zug versteckt, nach Deutschland.“ Wo denn? So eine Zugfahrt dauert doch? „In der Toilette.“
Im schmalen Büro von Heike Pfeiffer, in dem es nichts gibt außer Schreibtisch, Stühlen, einem Mülleimer in der Ecke und einem abschließbaren Metallschrank und in dem der größte Schmuck ein farbloser Jahreskalender an der Wand ist, entstehen langsam und zögerlich erst, dann immer deutlicher die Bilder einer Flucht.
20 Entscheider arbeiten in der BAMF-Außenstelle in Schweinfurt
Die Juristin gehört zu den 20 Entscheidern in der Schweinfurter Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Sie hat als Anwältin gearbeitet, dann Kinder großgezogen, seit anderthalb Jahren hört sie sich die Lebensschicksale von Eritreern, Syrern, Somali an. Und wägt ab, beurteilt, wie glaubwürdig die Schilderungen sind.
Eine Anhörung, sagt Heike Pfeiffer, ist kein Verhör. Im Gegenteil. Es ist ein vertrauliches Gespräch. Eine sensible Situation, immer. Der Flüchtling darf so ausführlich erzählen, wie er möchte. Und so lange, wie er will. Plötzlich ist er im Raum, der Name der Militärmiliz, die den somalischen Staat bekämpft, Teile des Landes kontrolliert und in Südsomalia die Schari?a durchsetzt. Al-Shabaab. Der Name wird noch oft fallen an diesem Vormittag. „Welche Vorwahl brauchen Sie denn, wenn Sie in Somalia anrufen?“, fragt Heike Pfeiffer. Der 18-Jährige hat erzählt, dass er zuletzt von Libyen aus Kontakt zu seiner Mutter hatte. „252. Aber ich komme nicht durch.“
Hatte die Familie Besitz? Hat der Mutter das Haus gehört? Miete oder Eigentum? Es gibt Missverständnisse, Unklarheiten, Widersprüche. Die Dolmetscherin muss viel rückfragen. „Bitte weisen Sie ihn noch mal darauf hin, dass er die Frage so konkret wie möglich beantwortet und die Wahrheit sagt“, sagt Heike Pfeiffer zur Sprachmittlerin. Die Antwort: „Alles was ich sage, ist die Wahrheit.“ Pfeiffer sagt: „Das wäre gut.“
Das Schicksal wird plastisch
Allmählich wird im schmalen, kahlen Raum aus der Flüchtlingsnummer ein Schicksal. Nicht zur Schule gegangen, Schreiben vom Nachbarsjungen gelernt, Schuhe geputzt, um Geld zu verdienen. Der Vater? Polizist. Oder Wachmann. Oder Steuereintreiber im Auftrag der Regierung. Die Dolmetscherin hakt nach, sucht deutsche Worte. Die wirtschaftliche Lage der Familie? „Schlecht.“ Wehrdienst? „Nein. Ich habe Angst vor Polizisten.“ Beschreiben Sie die Fahne Somalias. Nennen Sie eine bekannte somalische Sängerin oder einen Sänger. „Ich war lange in Libyen, mein Kopf hat sich verändert“, sagt der junge Somali irgendwann, als er nicht mehr weiter weiß. „Sie haben mich schlecht behandelt und geschlagen, ich kann Ihnen die Narben zeigen.
“ „Nicht nötig, danke“, sagt Heike Pfeiffer und schüttelt leicht den Kopf. Der Fluchtgrund. Sie will zum Fluchtgrund kommen. „Warum haben Sie Ihr Heimatland verlassen?“
„Wenn Du nicht zu uns kommst, werden wir Dich töten“
Durchatmen. „Weil der Vater für die Regierung gearbeitet hat.“ Heike Pfeiffer lässt den Somali erzählen. Der Vater sei von al-Shabaab erst umworben, dann erpresst und bedroht worden. Er habe sich immer geweigert. „Sie haben ihn erschossen.“ Der junge Somali fährt sich über die Stirn, spricht schnell. Pfeiffer muss nicht mehr nachfragen, die Worte fließen. „Als ich gesehen habe, dass ich die Familie ernähren muss, habe ich mich entschlossen in die Stadt zu gehen und Schuhe zu putzen. Da habe ich drei Monate gearbeitet. Dann sind zwei Männer gekommen und haben gesagt, wir wollen, dass Du aufhörst. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es al-Shabaab sind. Sie kamen immer wieder. Ich habe gefragt, was wollt Ihr? Was soll ich für Euch tun? Wenn Du nicht zu uns kommst, werden wir Dich töten. Sie kamen immer wieder: Wir warten auf Dich. Dann haben sie mich geholt und gefangen gehalten. Dann bin ich abgehauen.“
Durchatmen. „Gut“, sagt Heike Pfeiffer. „Das waren die Gründe? Dann nehme ich das vorläufig so auf.“ Sie spricht leise in ihr Diktiergerät. „Probleme mit al-Shabaab . . .“ Kurze Unterbrechung, der Somali bittet darum, auf die Toilette gehen zu können. Als er zurück ist, sagt Pfeiffer: „Jetzt fangen wir mal an.“
Manchmal dauert eine Anhörung viele Stunden
Eine Anhörung kann mehrere Stunden dauern. Die längste, die die Juristin erlebt hat, ging bis in die Nacht. „10,5 Stunden“, sagt Pfeiffer. „Der Betroffene war sehr aufgeregt und wollte alles loswerden.“ Die 53-Jährige ist spezialisiert auf geschlechtsspezifische Anhörungen, oft sitzen ihr vergewaltigte Frauen, verfolgte Homosexuelle gegenüber. Menschen, die viel Gewalt erfahren, Schlimmes durchgemacht haben. Die Taschentuchbox steht immer bereit. Aber, sagt Pfeiffer: „Es fließen weniger Tränen, als man denkt.“
Verantwortung für ein Schicksal
Wie geht man als Entscheider damit um? Wie ist es, über die Zukunft eines Menschen zu bestimmen? Wie hält man die Geschichten, die Verantwortung aus? Es gehe eigentlich ganz gut, sagt Heike Pfeiffer. „Weil man in der Außenstelle immer auch die Möglichkeit hat, mit erfahrenen Kollegen über diese Dinge zu reden oder einfach auch einmal eine kurze Auszeit nach einer belastenden Anhörung zu nehmen.“ Dass sie nicht in Schweinfurt wohnt und einen langen Weg zur Arbeit hat, helfe auch: „Die Fahrt hilft schon, auch geistig Abstand zu nehmen.“
In der Anhörung lässt sie das Gehörte ablaufen wie einen Film. Achtet auf Widersprüche, Unstimmigkeiten. Wie war das mit dem 18-Jährigen, der vor der militanten islamistischen Terrorbewegung floh? Kommt er wirklich aus Somalia, wie er sagt? Eine Stunde lang wird Heike Pfeiffer jetzt genau nachfragen, immer wieder nachhaken, um ein klareres Bild zu bekommen. Wie oft sind die Männer von al-Shabaab zum Vater gekommen? Wo ist der Vater erschossen worden? Wer hat ihn gefunden? Wie oft hat der Junge Schuhe geputzt? Wie weit ist es vom Dorf zur Stadt? Die Dolmetscherin und der Somali diskutieren.
Heike Pfeiffer lächelt, wartet, hört zu, tippt. Es geht jetzt um die Entführung. „Ein bisschen genauer hätte ich das schon gerne.“ Hatten die Männer Waffen? Was war das für ein Auto? Wie sah das Haus aus, in dem er festgehalten wurde?
„Man ist ja Mensch, man hat Angst.“
Der Somali stottert. „Ich habe nichts gesehen, was ich Ihnen jetzt sagen könnte. Man ist ja Mensch, man hat Angst, man läuft immer gerade aus.“ Er sei heimlich zu seiner Mutter, sie hätten beschlossen, dass er fliehen muss. Der Nachbarsjunge habe ihm die Nummer vom Schlepper gegeben. Hätten Sie nicht anderswo in Somalia Schutz suchen können? „Ich habe keine Familie. Ich wäre nicht hier, wenn ich Hilfe von meinem Clan bekommen hätte.“ Was würde passieren, wenn sie zurückgehen? „Al-Shabaab würde mich töten.“
Der junge Mann rutscht wieder auf dem Stuhl hin und her. „Ist er nervös?“, fragt Pfeiffer. „Er hat Hunger“, sagt die Dolmetscherin. Heike Pfeiffer schreibt, ergänzt das Protokoll. Bittet um Geduld. „Die Rückübersetzung g gehört zur Anhörung, ich möchte sicher sein, alles richtig verstanden zu haben.“ Die Juristin druckt mehrere Seiten aus, die Dolmetscherin wird sie gleich in Somali übersetzen.
„Wir entscheiden allein nach Rechtslage“
Wird der 18-Jährige bleiben dürfen? Nach der Dublin-Verordnung wird Italien zuständig sein. „Dass der Junge aus Somalia kommt, daran habe ich eigentlich keine Zweifel“, wird Heike Pfeiffer am Ende nur sagen. Direkt nach der Anhörung äußert sie sich prinzipiell nicht, zu keinem Fall. Sie wird in den nächsten Tagen in Ruhe das Protokoll lesen, überlegen, vielleicht Sachverhalte recherchieren, bewerten, ob der Somali schutzbedürftig ist. Und einen umfassenden Bescheid schreiben. „Ich entscheide nicht, ob mir eine Person sympathisch ist und nicht danach, ob ein Geflüchteter integriert ist“, sagt Heike Pfeiffer.
„Wir entscheiden allein nach Rechtslage. Die Frage ist, welche Gefahr droht ihm jetzt bei einer Rückkehr?“
Aber erst einmal: „Sacken lassen.“
Entscheider und Asylverfahren am Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
Am Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) in Nürnberg sind derzeit mehr als 2000 Entscheider tätig. In der Außenstelle in Schweinfurt arbeiten 20 Entscheider. Ob ein Asylantrag genehmigt oder abgelehnt wird, liegt in ihrem Ermessen. Die Entscheider müssen herausfinden, ob ein Antragsteller die Wahrheit erzählt. Sie überprüfen geografische Angaben, recherchieren Fakten und kennen die Lebenssituationen und Gepflogenheiten in einzelnen Regionen. Ist die Identität eines Antragstellers nicht klar, helfen der Abgleich von Fotos oder stimmbiometrische Analysen, mit denen Dialekte erkannt werden.
Die Zahl der offenen Asylverfahren in Deutschland liegt aktuell zum ersten Mal seit Januar 2014 wieder unter 100 000. Bis Ende September sind in diesem Jahr rund 515 000 Asylverfahren entschieden worden. Vor einem Jahr lag die Zahl der anhängigen Verfahren noch bei mehr als 579 000. Bislang wurden in diesem Jahr 168 000 Asylanträge neu angenommen und zwei Drittel davon bereits entschieden. Im Schnitt erhält jeder Antragsteller derzeit innerhalb von zwei Monaten seinen Bescheid. Aktuell sind beim Bundesamt 99 334 Verfahren anhängig.
Im September wurden insgesamt 16 520 Asylanträge gestellt, die meisten von Menschen aus Syrien oder dem Irak. Entschieden wurde über die Anträge von 35 127 Asylsuchenden. 6356 Personen erhielten die Rechtsstellung eines Flüchtlings nach der Genfer Flüchtlingskonvention (18,1 %), 4474 Personen (12,7 %) subsidiären Schutz und 3126 Personen (8,9 %) Abschiebungsschutz. Abgelehnt wurden die Anträge von 12 824 Flüchtlingen (36,5 %). Abschließend bearbeitet (z. B. durch Dublin-Verfahren oder Rücknahme des Asylantrages) wurden die Anträge von 8347 Personen (23,8 %).