Wenn er über die Schicksale von Kindern spricht, versagt dem Anti-Atom-Aktivisten Kazuhiko Kobayashi aus Tokio die Stimme. Der Japaner befindet sich erneut auf Europatournee. Er berichtet zur besten Tatort-Zeit am Sonntagabend auf Einladung des Schweinfurter Antiatombündnisses vor 25 Zuhörern im DGB-Zentrum über den „Tatort Fukushima“ und die Verschleierung der Behörden.
40 Vorträge werden es am Ende wieder sein, in Tschechien, Frankreich, Deutschland. Bei der letzten Tour sammelte er 14 000 Euro ein. Kobayashi stellte sie japanischen Hilfsprojekten zur Verfügung, die sich um Kinder aus den verstrahlten Gebieten kümmern. Auch Schweinfurt spendet großzügig.
29 Jahre lebte der Germanist, verheiratete Vater zweier Kinder in Deutschland. Durch Europa tourt er aus drei Gründen: Katastrophen wie Tschernobyl und Fukushima hätten gezeigt, dass die Atomtechnik „nicht hundertprozentig sicher ist“. Auch in Europa seien solche Katastrophen trotz aller Beteuerungen „jederzeit möglich“. Ein GAU in La Hague „macht Europa unbewohnbar“. Drittens: Er will die Atomkraftgegner der bereisten Länder zusammenbringen mit dem Ziel, dass alle Atomkraftwerke abgeschaltet werden. Dass die Lichter auch ohne Atomstrom weiter brennen, beweise Deutschland und Japan selbst. Alle 53 japanischen KKW sind seit Fukushima 2011 nicht mehr ans Netz gegangen, ohne Probleme, sagt er. Obwohl nur die Hälfte der konventionellen Kraftwerke hochgefahren worden seien.
Kobayashi sagt, dass die verheerenden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki „zum Testen“ abgeworfen wurden. „Der Krieg war verloren, die Amerikaner wollten über die Auswirkungen der Strahlung erfahren“. Auf Proteste reagierten die Verantwortlichen mit der Idee, Atomkraftwerke zur Energiegewinnung zu bauen.
Den üblichen Grenzwert von einem Millisievert pro Jahr habe man nach dem GAU in Fukushima auf 20 Millisievert erhöht. Die vom Referenten massiv kritisierte Internationale Atomic Energy Agency (IAEA) Wien habe aber als Interessensvertreter der Atomlobby interveniert. Der neue Grenzwert wiederum habe die Behörden veranlasst, die hochverstrahlten Gebiete um Fukushima als ungefährlich zu deklarieren. Damit „die Menschen dort nicht weggehen, wurden auch höhere Werte verschleiert“.
Viele Mütter seien dennoch mit ihren kleinen Kindern weggezogen. Die Behörden gäben nur den Wegzug der 7500 zu, die sich abgemeldet hätten. Allein in Tokio lebten aber 15 000 dieser Mütter, deren Ehemänner zum Geldverdienst zurückgeblieben seien. Viele Ehen seien gescheitert, „eine Tragik“, sagte er.
Größtes Problem sei das weitgehende Desinteresse der Gesamtbevölkerung. Diese im 17. Jahrhundert entstandene „Volksmentalität eines kritik- und bedingungslosen Gehorchens“ gelte bis heute für weite Teile der Japaner. Selbst in einem Lager, in dem Menschen aus dem höchst versuchten 20-Kilometer-Radius leben, habe er keinen Zorn gegenüber den „Mächtigen“ gehört.
Dann Bilder aus bewohnten Gebieten um Fukushima. Das eines bekannten Rinderzüchters, der nicht weggeht, seinen unvermeidbaren Tod als Protest sieht. Die Geschichte vom jungen Fischer. Die Eltern seiner Verlobten aus einem entfernteren Ort sagten die Heirat ab, weil sie kein krankes Enkelkind haben wollen. Kinder trügen Dosimeter um den Hals, damit man ihre Strahlenbelastung erfassen kann. Kobayashi und Aktivisten haben bei Messungen stets den gegenüber der offiziellen Zahlen doppelten Wert ermittelt. An einer Schule, einer Universität, auf einem Spielplatz. Er spricht von Manipulation, schüttelt den Kopf, dass die japanische Regierung die Betreiberfirma Tepco noch immer unterstütze, aber kein Geld für die Menschen gibt. Am Ende berichtet er von der Mutter, deren Töchter, sechs und neun, Spuren einer Krebserkrankung aufweisen. „Kinder sind die unschuldigsten Opfer“, sagt er. Dann versagt seine Stimme.