Das erste Kindheitserlebnis, an das sich Marietta Binder erinnern kann, war eine Zugfahrt nach Bukarest, mit der Dampflok. Das kleine Mädchen konnte sich im schwankenden Wagon kaum festhalten, damals, Ende der 1920er Jahre. Am Sonntag, 29. Januar, wird die gebürtige Siebenbürgerin 100 Jahre alt.
Als sie 1923 in Kronstadt (rumänisch: Brașov) zur Welt kam, sah es zunächst so aus, als würde sie keinen Tag überleben. Die Nabelschnur hatte sich um den Hals des Säuglings gewickelt. Es war ein harter Winter, der Schnee lag bis zum ersten Stock. "Totgesagte leben länger", sagt Marietta Binder, geborene Zacharias, stolz.
Der Vater war ein Kaufmann, der im Polster- und Möbelgeschäft tätig war. Es gab noch zwei Geschwister. Die Vorfahren sollen aus Lübeck gestammt haben. Kronstadt war ein Zentrum der Siebenbürger Sachsen, der deutschsprachigen Minderheit. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die sogenannten "Volksdeutschen" Repressalien unterworfen, eine Schwester Marietta Binders wurde in die Sowjetunion verschleppt.
Sie selbst hatte Glück, als Mutter eines kleinen Kindes blieb sie verschont. Aus zwei Ehen gingen vier Kinder hervor, fünf Enkel und mehrere Urenkel. Marietta Binder hat als Hilfslehrerin auf dem Dorf gearbeitet, später war sie technische Zeichnerin in einer Waggonfabrik, bevor sie mit ihrem zweiten Mann Otto nach Deutschland aussiedeln durfte: Den Bankkaufmann hatte sie Anfang der 1960er-Jahre kennengelernt. Bei Fichtel & Sachs arbeitete Marietta Binder lange in ihrem alten Beruf, seit 1978 lebt das Paar in Dittelbrunn. Otto Binder ist jetzt Mitte 90.
Das Nähen und die Gartenarbeit waren die großen Hobbys. Marietta Binders. Wie man 100 Jahre alt wird? "Ich wundere mich selber", sagt die feinsinnige, verschmitzte Frau, der man ihr biblisches Alter kaum anmerkt. Das Klavierspiel habe ihr geholfen, Fleisch habe sie nie viel gegessen. Kreuzworträtsel und Sudoku halten den Geist fit, auch wenn es mit der Gesundheit besser aussehen könnte. "Altwerden ist nichts für Feiglinge": Das Buch von Joachim Fuchsberger hat die Jubilarin im Regal. Nun wird im Kreis der Familie gefeiert. Zum Abschied bekommt der Reporter noch den Faustgruß, den sich Marietta Binder in der Coronazeit angewöhnt hat, als Zeugin eines Jahrhunderts.