
Leonardo Calossi wird am 8. Februar 2014 hundert Jahre alt. Er hofft, diesen Tag noch zu erleben, bat aber in einer liebevollen Nachricht an die Schweinfurter „Initiative gegen das Vergessen“, mit einem Besuch nicht bis dahin zu warten. Seine Gesundheit sei zwar wieder „einigermaßen“ hergestellt, aber die „Gebrechen des Alters zeigen sich dauernd, ein Naturgesetz“, schrieb er. Klaus Hofmann, Sprecher der Initiative, beschloss deshalb einen schnellen Besuch noch im Oktober.
Calossi schloss den „Freund Klaus“ in seiner Wohnung in Florenz dieser Tage hocherfreut in seine Arme. Mit dabei war der gerade in Italien urlaubende Reporter, dem der 99-Jährige gerne ein Interview gab, „Wenn du Schweinfurt meine besten Grüße übermittelst“, lachte er.
Calossi war von 1943 bis 1945 Zwangsarbeiter bei Kugelfischer in Schweinfurt und davor im FAG-Auslagerungswerk Landeshut in Schlesien. Er wäre im September 2011 gerne zur Eröffnung des Zwangsarbeiter-Gedenkortes im Maintal gekommen. Den reiseunfähigen Vater vertrat da aber sein Sohn Carlo, der diesen von Calossi verfassten Text verlas: „Dieses dauerhafte Symbol erhebt sich als Mahnung für die kommenden Generationen, damit sich derartige verabscheuungswürdige Taten gegen die Menschlichkeit niemals wiederholen.“
Durch Zufall erfuhr die Initiative von einer Buch-Veröffentlichung Calossis über seine Erlebnisse als Zwangsarbeiter. Bei einem ersten Besuch 2002 stimmte Calossi sofort einer deutschen Fassung zu. Die „Anmerkungen zu einer Internierung in Deutschland – 1943 bis 1945“ erschienen 2003. Unter lebhaftem Interesse der Öffentlichkeit präsentierte Calossi sein Buch im März 2003 im Schweinfurter Rathaus. Zum ersten Mal nach 60 Jahren hatte er damals auch seine früheren Arbeitsstätten bei Kugelfischer besucht.
Im 192-Seiten-Werk beschreibt Calossi sein und das Schicksal vieler Leidensgenossen. Vor allem der Hunger spielt darin eine tragende Rolle. Neben seinem Lebensbericht enthält das Buch auch Beiträge von Autoren der Initiative, die sich mit dem Grund für die Bombardierung von Schweinfurt, den daraus resultierenden Auslagerungen der Wälzlagerproduktion und der Rolle der italienischen Militär-Internierten beschäftigen.
Jetzt Besuch in Florenz. Calossi kommt den Schweinfurtern schon auf der Treppe entgegen. Er präsentiert sofort einen vom ihm aktuell verfassten Artikel über seine Zeit in Schweinfurt, veröffentlicht in der italienischen Zeitung „Gelbe Flammen“. Bebildert hat die Redaktion die Ricordi (Erinnerungen) Calossis mit einem aktuellen Foto des Schweinfurter Marktplatzes mit Rückert-Denkmal und Rathaus.
Vor zehn Jahren, sagt er, habe er Schweinfurt „gerne das letzte Mal besucht“. Es komme ihm aber vor, als „wäre das gestern gewesen“. Der Besuch damals habe ihn „sehr berührt“, sagt er zu Dolmetscherin Heidi Hofmann-Casprini. Sie stammt aus Karlsruhe, ist mit dem Italiener Claudio Casprini verheiratet, lebt nahe Florenz und half der Initiative damit ein weiteres Mal.
Calossi spricht, ohne gefragt zu werden, über den 2011 eröffneten Gedenkort samt Lagerweg. „Ganz wichtig, weil so die Erinnerung weiter wach gehalten wird“, sagt er. Sein Sohn Carlo habe ihm berichtet, dass seine Botschaft „in Schweinfurt mit großer Herzlichkeit“ aufgenommen worden sei. Calossi bedauert die Kriege auf der Welt, sie seien das „Schlimmste, weil sie Menschen zerstören und in Not und Elend drücken“. Er selbst habe schlimme Jahre in Deutschland erleben müssen, aber „Bitternis oder Hass habe ich nie gespürt“. Die Menschen müssten dafür eintreten, friedlich miteinander auszukommen, und das gerade jetzt, da wieder nationalsozialistische Gruppen existierten. Deshalb auch sei „fortlaufende Erinnerung notwendig“.
Calossi weiß über die „brutalen und hässlichen Untaten“ der NSU Bescheid. Dass junge Leute die Patenschaft für den Gedenkort für die von Nazis ermordete Zofia Malzcyk und den Erinnerungsort an die Zwangsarbeiter mit Lagerweg (Bayernkolleg, Konfirmanden der evangelische Kirche, DGB-Jugend) übernommen haben, freut ihn. „Wenn Jugend die eigene Generation über Unrecht aufklärt, ist das nachhaltiger“, sagt Calossi.
Immer wieder streut der 99-Jährige Erlebnisse aus der Gefangenschaft ein. Etwa die vom italienischen Leidensgenossen, dem der warme Mantel und Rucksack gestohlen wurde. Er dankt dabei in eigener Sache dem Herrgott, dass „mein Verstand und Gedächtnis noch so ziemlich in Ordnung sind und mein Herz funktioniert“. Zum Beweis legt er ein kürzlich erstelltes EKG auf den Tisch, das sein Arzt im Behandlungszimmer aufgehängt habe mit dem Vermerk, dass der Patient bald 100 Jahre alt wird. Der Patient ist Calossi.
Dann präsentiert er stolz ihm verliehene Auszeichnungen: Das Ehrendiplom als Freiheitskämpfer Italiens, die Ehrenmedaille für die deportierten und in den NS-Lagern internierten italienischen Staatsbürger, die ihm der Oberbürgermeister von Florenz, Matteo Renzi, 2010 überreichte. Eine Ehrung aus Schweinfurt „fehlt noch“. Calossi lacht zwar dabei, aber er sagt, dass ihm, welcher Art sie auch immer sei, eine solche „eine letzte große Freude“ sei. „Mein 100. Geburtstag am 8. Februar 2014 wäre doch ein Anlass“, sagt Calossi mit einem Schmunzeln, das aber mehr daher rührt, dass man dem Schweinfurter OB übermitteln solle, dass er nicht mehr nach Schweinfurt kommen könne, der OB aber in Florenz herzlich willkommen sei.
Calossi kann das Schreiben – übrigens auf einer alten Schreibmaschine – nicht lassen. Zur Zeit bringt er seine Recherchen über die Partisanen an seinem (kühleren) Sommersitz in Monticiano zu Papier. Verfasst hat er auch ein Gedicht. Es trägt den Titel „Wettlauf der 100 Jahre“. Er sitzt dabei bildlich auf einem Fahrrad: „Zu diesem denkwürdigen Tag/fehlen nur noch zwei Etappen/(...)Kehre um Kehre/das Treten wird anstrengender/das Herz rast“. Aber vom Straßenrand rufen Leute: „Los, los/der Gipfel ist nahe“.
Er werde die letzten Etappen noch zu meistern versuchen, heißt es und weiter: „Hoffnungsvoll werde ich warten/die letzte Widrigkeit anzugehen/die zu dem Ort führt/wo die Wege ständig hell erleuchtet sind/angenehm, eben/wo das Wetteifern eine ewige Freude für alle ist“.
Zum Abschied erinnert Calossi an die letzte Seite seines Buches. Darin sagt er: „Als ich heil in die Heimat zurückgekehrt war, habe ich die Heiterkeit wieder gefunden, die erfahrenen Leiden waren vergessen. Ich bin nicht nachtragend gegenüber denen, die für das Leiden verantwortlich waren“.
Leonardo Calossis Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit
Am 8. September 1943 hatte der italienische Marschall Badoglio die Kapitulation Italiens verkündet. Mit drastischen und mancherorts völkerrechtswidrigen Methoden entwaffneten die deutschen Verbände daraufhin den desorientierten ehemaligen Bündnispartner. Über 600 000 italienische Armeeangehörige gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft. Unter ihnen auch Unteroffizier Leonardo Calossi, der mit seiner Einheit in Tirana die Waffen strecken musste. Er kam nach Schweinfurt und Landeshut. Den Anstoß, seine entbehrungsreichen Erlebnisse aus den Jahren 1943 bis 1945 niederzuschreiben, gab eine Tagung der Associazione Nazionale Ex-Internati 1985 in Florenz. Dort hatte der Turiner Militärhistoriker Giorgio Rochat in einem Gespräch mit Calossi die vergleichsweise geringe Zahl von Memoiren ehemaliger Soldaten bedauert. 1987 veröffentlichte Calossi seine „Notarelle di un Internato in Germania“. HH