Der Fall der kommunistischen Regime und die deutsche Einheit hatten 1989/1990 eine große Euphorie in der westdeutschen Wirtschaft und eine Nachfragewelle in der Metall- und Elektroindustrie ausgelöst. Doch schon 1992/1993 brachen die Märkte drastisch ein, lösten auch in der Schweinfurter Metallindustrie vor allem durch die in ihrer Existenz gefährdete Firma FAG Kugelfischer eine Krise ungeahnten Ausmaßes aus.
Legendäre Großdemonstration mit 13 000 Teilnehmern
Trotz unübersehbarer Warnzeichen wie dem Niedergang traditionsreicher Metallfirmen und „Kapazitätsanpassungen“ bei SKF, FAG und Fichtel & Sachs 1991 trafen die Massenentlassungen zwei Jahre später die Industriegewerkschaft Metall (IGM) und besonders die „Kufi“-Betriebsräte unvorbereitet und äußerst hart. Aber Gewerkschaft und Betriebsräte reagierten: Am 13.
Februar 1993 organisierten sie eine Großdemo mit rund 13 000 Beschäftigten aller Kugelfischer-Standorte und Mitarbeitern vieler anderer Unternehmen aus der Region, „Die Region muss weiterleben!“: So hatte die IG Metall den bis heute größten Protest gegen den massiven Arbeitsplatzabbau und die Verlagerungen überschrieben, sagt Norbert Lenhard.
Der Schaeffler-Gesamtbetriebsratsvorsitzende und der für den Schaeffler-Betriebsrat tätige Politikwissenschaftler Michael Kraus sind die Autoren einer IGM-Broschüre mit dem Titel „25 Jahre nach der Krise in der Schweinfurter Metallindustrie – Abgrund und Aufstieg“, die ein Vierteljahrhundert nach der „Katastrophe“ (Lenhard) auf 96 Seiten von der Gegenwehr der Betriebsräte, der IGM und der Beschäftigen vor allem bei FAG, heute Schaeffler, berichtet.
Schulterschluss der Beschäftigten aller Unternehmen hält bis heute an
Im Mittelpunkt der reich bebilderten „Jubiläums“-Schrift steht auch die betriebsübergreifende Solidarität. Dieser Schulterschluss der Beschäftigten auch anderer Unternehmen aus der ganzen Region „hält bis heute an“, sagt der Erste Bevollmächtigte der Schweinfurter Metallgewerkschaft, Peter Kippes. Er hatte just im Krisenjahr 1993 bei der IG Metall angefangen und ist heute in Schweinfurt deren Chef.
Die Broschüre geht ausführlich auf die Managementfehler bei Kugelfischer ein. Obwohl schon seit Jahren ertragsschwach, sei die Führungsetage mit der Übernahme der ostdeutschen Kugellagerfabriken DKFL und dem Kauf der koreanischen Hanwha-Gruppe zu große Risiken eingegangen. Mit der Folge, dass die Firma Ende 1992 mit 2,2 Milliarden Mark verschuldet war. Die Banken verlangten damals angesichts der drohenden Zahlungsunfähigkeit umfassende Umstrukturierungen, die der als harter Sanierer bekannte Kajo Neukirchen auch durchsetzte.
Nicht nur Kugelfischer baute massiv Stellen ab
Der Vorstand wickelte die ostdeutschen Standorte ab, Unternehmensteile wie die FTE Ebern wurden verkauft und die Personalstärke mehr als halbiert. Kugelfischer zählte im Jahr 1990 noch 10 517 Mitarbeiter. 1994 war die Beschäftigtenzahl auf 5009 geschrumpft. Aber auch die anderen „Großen“ bauten im gleichen Zeitraum massiv ab: Fichtel & Sachs von fast 10 000 auf knapp unter 7000, SKF von 6110 auf nur noch 4720 Beschäftigte.
Als die nackte Angst umging
Ganze Generationen von Familien arbeiteten beim „Kufi“, der Job war quasi vererbt, galt bis zur Rente gesichert. Plötzlich aber mussten Tausende ihre Lebensplanung über Bord werfen. Die nackte Angst ging um, viele der traumatischen Lebensgeschichten landeten natürlich bei den Gewerkschaftern und Betriebsräten, die durch die emotionalen Erlebnisse aber längst wachgerüttelt waren.
Die Solidarität vieler auch nicht Betroffener ist unvergessen
Der legendären Februar-Demonstration 1993 folgte ein Jahr mit vielen weiteren Großdemonstrationen in Schweinfurt. Erinnert sei an die Mahnwachen vor den FAG-Werkstoren, an die Menschenkette von den Betrieben SKF, Fichtel & Sachs und FAG zum Arbeitsamt mit mehreren tausend Teilnehmern – darunter viele, die nicht direkt betroffen waren, aber mitmachten.
Pfarrer Breitenbach und andere Hilfen
So wie Roland Breitenbach, der von einem Lastwagen herab einen Gottesdienst hielt. Der Sankt-Michael-Pfarrer rief eine Spendenaktion ins Leben, die wie die von dieser Redaktion mit der Diakonie gegründete Stiftung „Schweinfurt hilft“ durch Arbeitslosigkeit in Not geratene Menschen unterstützte.
Eine weitere vieler Aktionsformen war der legendäre Marsch nach Bonn von 42 IG-Metallern. All das hatte die gewollte bundesweite Wirkung, sagt Lenhard. Die Gewerkschafter beauftragten aber auch ein Beratungsinstitut zur Entwicklung eines industriepolitischen Konzepts, man veranstaltete Konferenzen mit Politikern und Betriebsräten.
Neben Streik und Protest ist das Mitgestalten der Zukunft wichtig
„Wir haben damals begriffen, dass neben dem Protest auch Vorschläge nötig sind“, sagt der einstige IGM-Bezirksleiter Werner Neugebauer, ein Schweinfurter, der wie andere Zeitzeugen in der Broschüre zur Wort kommt. Streiken und kämpfen, das sei wichtig, aber zugleich dürfe man die Gestaltung der Zukunft nicht anderen überlassen.
„Wir haben heute Produkte, die man sich vor 20 Jahren noch nicht vorstellen konnte“, schildert Lenhard, der der gewerkschaftlichen Betriebspolitik einen hohen Anteil an der gelungenen Wende beimisst. 1993 war die Wälzlagerindustrie speziell bei FAG in eine tiefe Nachfrage-, Struktur- und Finanzierungskrise gestürzt.
Heute wieder mehr Beschäftigte als vor der Krise
„Die IG Metall und die Betriebsräte haben zum Wiederaufstieg der Metallindustrie in Schweinfurt wesentliche Beiträge geleistet“, betont auch Kippes. Der Ex-Oberbürgermeisterin Gudrun Grieser gelang es, den damaligen Ministerpräsident Edmund Stoiber nach Schweinfurt zu holen. In der Folge gab es zwei Behördenverlagerungen. Bei der IG Metall kommt Grieser nicht so gut weg, weil sie der Gewerkschaft „zu Unrecht die Untergangstimmung zuordnete“.
Damals 20 Prozent Arbeitslose, heute 2,8
Kugelfischer hat sich unerwartet rasch erholt, blühte wieder auf – mit der Folge, dass die damalige INA-Schaeffler-Holding in Herzogenaurach Kugelfischer 2001 übernahm, schreibt Lenhard in der Broschüre. Heute haben die vier Großen den höchsten Belegschaftsstand seit 1993, obwohl kein Unternehmen seinen Hauptsitz mehr in Schweinfurt hat. ZF Sachs ist mit 9200 Mitarbeitern wieder die Nummer eins, gefolgt von FAG/Schaeffler mit 6070, SKF (4200) und Bosch Rexroth (1400). Mit Fresenius (1200) sind es heute sogar mehr als damals in der Krisenzeit, sagt Lenhard.
Auch die Arbeitsmarktlage kann sich sehen lassen: Die Arbeitslosenquote, die damals die 20 Prozent weit überstiegen hatte, lag im Arbeitsagenturbezirk Schweinfurt im Dezember 2017 bei 2,8 Prozent, in der Stadt betrug sie 5,7 Prozent. Schweinfurt hat heute fast wieder so viele Arbeitsplätze wie Einwohner (rund 55 000).
Die Broschüre gibt es in einer Auflage von 1000 Stück in Druckform und als PDF-Version unter www.igmetall-schaeffler.de