Die Texte des amerikanischen Sängers, Komponisten, Schauspielers und Autors Tom Waits (67) sind oft lakonische Geschichten über Außenseiter, Gestrandete, Menschen in seelischer oder körperlicher Not. „Diese Menagerie erschaffe ich, um mich zu motivieren“, sagte Waits einmal dazu. Das erklärt sicher auch die Stoffauswahl zu seiner Musical-Trilogie „Misery 's the River of the World“, die zwischen 1992 und 2000 in Zusammenarbeit mit dem Avantgarde-Regisseur Robert Wilson (75) entstand. Bei „The Black Rider“ legt Waits den Focus auf den Teufelspakt zwischen Samiel und Max in der „Freischütz“-Erzählung, bei Georg Büchners „Woyzeck“ ist er fasziniert von der geschundenen Kreatur.
Hier in „Alice“ nach „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll gilt Waits' Interesse der gequälten Seele des Charles Dodgson: Vergeblich versucht der Mathematik-Professor und Fotografie-Pionier Ruhe in seinen verwirrten Kopf zu bringen: Er ist besessen von jungen Mädchen zwischen zehn und elf Jahren, die er auch fotografiert, bekleidet oder nackt. Sie sollen Natürlichkeit und Unschuld ausstrahlen. Sein Darling ist die junge Alice Liddell, Tochter des Dekans. Um sie an sich zu binden, schreibt er für sie seine Wunderland-Geschichten.
War „The Black Rider“ vom Metropol-Theater München 2011 hier zu sehen, vollendete jetzt das Theater Wasserburg bei seinem zweitägigen Gastspiel die Waits-Trilogie mit „Alice“ und „Woyzeck“. In „Alice“ benutzt Waits Fantastisches, fremdartige Charakter und Bilder, um die innere Welt eines Mannes zu zeichnen, die geprägt ist von Sehnsucht, Träumerei, Wahnsinn, Resignation. Ist „Alice im Wunderland“ ursprünglich ein buntes Kaleidoskop mit weißen Kaninchen und der grinsenden Cheshire-Cat, die Welt des Professor Dodgson ist grau und trostlos.
Da der verwirrte Autor Handlung und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit, die Figur und die reale Alice nicht mehr unterscheiden kann, tummelt sich Alice hier gleich dreifach auf der Bühne (Susan Hecker, Annett Segerer und Regina Alma Semmler). Dodgson (Hilmar Henjes) steht oder bewegt sich auf der Vorderbühne in einem Rhönrad, unentrinnbares Gefängnis seiner Gedankenstürme. Seine Fantasien und Ängste werden auch von einem zweiten Dodgson (Frank Piotraschke) und einem dritten Dodgson (Nik Mayr) von einer zweiten Ebene aus artikuliert. Verwirrend? „Alles, was wir sehen oder hören, spielt sich im Kopf von Dodgson ab“, antwortet Regisseur und Prinzipal Uwe Bertram.
Er hat diese beklemmende Geschichte mit Einfühlungsvermögen und Theaterwirksamkeit zu einem berührenden Abend gemacht, in dem die Schauspieler nur als Erzähler und Sänger agieren.
Ganz wichtig für die Umsetzung der Waits-Songs ist die Band, die mit Leiter Georg Karger (Bass) einen exzellenten Arrangeur gefunden hat. Mit Wolfgang Roth (Saxofone, Klarinette), Peter Holzapfel (Posaune, Gitarre), Anno Kesting (Schlagwerk), Leonhard Schilde (Violine, Bratsche) und Regine Alma Semmler (Piano) betont Karger in idealer Weise die Waits-Songs, die in „Alice“ ungewöhnlich zart und wehmütig, aber auch voller Komik sind.
Im Titellied „Alice“ bekennt sich Dodgson zu seiner Besessenheit zu Alice. Er schwärmt von einem geheimen Kuss – doch würde der nicht gleichzeitig Glückseligkeit und Wahnsinn in sich bergen, bis ins Grab? Zwischen den Songs bringen Text-Zitate aus der Wunderland-Erzählung Bekanntes: Alices Einladung zum königlichen Croquet-Spiel, Begegnung mit dem verrückten Hutmacher und dem Märzhasen.
In einem ergreifenden Monolog schildert Dodgson seinen Seelenzustand vor und nachdem Alice in sein Leben tritt: „Jahrelang wurde mein Kopf gepeinigt von Lärm, Geklirr und Geschrei, von unbarmherzigen Kirchturmglocken. Dann kam sie: Haben Sie schon mal erlebt, wie wunderbar Stille sein kann? Zum ersten Mal war ich ich selbst“. Neben diesem Glücksgefühl ist Dodgson erfüllt von Angst und Vorwürfen wegen seiner Abhängigkeit von Alice, die zu einer gegenseitigen wird. Jeder wird zum Gefangenen des anderen. Aber auch Satzfetzen wie „Habe doch nichts gemacht, könnte seine Tochter sein, Gerichtsurteil, Kopf ab“ schwirren durch den Raum.
Im Mittelpunkt stehen die Tom Waits-Songs, mit denen Waits auf seine Art in sensibler Notenpoesie die Verbindung von Alice und Dodgson unterstreicht: „Everything you can think“, „No one knows I'm gone“, „Table Top Joe“. Zum Schluss singt die ältere Alice (Susan Hecker) in „I'm still here“: „Du hast von mir geträumt wie ich von dir. Was wolltest du von mir? Jetzt verlässt du mich. Die Lichter gehen aus. Ich werde dich bis in alle Ewigkeit lieben“.
Abrupt hatte Dodgson 1880 seine Verbindung mit Alice beendet. Vielleicht, weil es Probleme mit den Eltern des Mädchens gab, oder der Begriff der Pädophilie aufkam oder, weil Alice ganz einfach älter geworden war. Langer herzlicher Applaus für das spielfreudige Ensemble aus Wasserburg.