Am Abend des 9. November 1938 sind 2800 NSDAP-Mitglieder mit Hetzliedern und antijüdischen Parolen von den damaligen Gaskesseln am Marienbach zum Marktplatz marschiert. Sie feierten den 15. Jahrestag des Hitlerputsches von 1923. In Schweinfurt gab es den Pogrom nicht wie überall am Abend des geschichtsträchtigen 9. November, sondern erst am 10. November 1938 morgens.
Zur Erinnerung an die brutalen Übergriffe der Nazis auf die nur noch etwa 150 der bis 1933 noch 363 Schweinfurter Juden fanden am Donnerstagabend drei Gedenkveranstaltungen statt. Tenor aller Reden und Predigten war, dass das Erinnern niemals enden dürfe, zumal „die Methoden der 1920er und 1930er Jahre, die für die Pogrome die Voraussetzungen schafften, heute in ähnlicher Art und Weise wieder zu beobachten sind“.
So formulierte es SPD-Stadtratsfraktionschef Ralf Hofmann bei der zentralen Veranstaltung am einstigen Standort der Synagoge in der Siebenbrückleinsgasse. Die SPD hatte wie alle Jahre eingeladen, rund 100 Menschen waren gekommen, darunter auch die Teilnehmer eines wieder von Klaus Hofmann (Initiative gegen das Vergessen) angebotenen Stadtrundgangs.
Hofmann führt seit 1994 am 9. November zu den Tatorten in der Rückert-, Spitalstraße, am Marktplatz oder Oberen Straße, wo Robert Sachs, der den Holocaust überlebte, wohnte. Sachs beschrieb die Lage am 9. November 1938 in Schweinfurt so: „Es war für uns die Ruhe vor dem Sturm, und dieser brach am nächsten Morgen los.“ Bis 1933 klappte das Miteinander in Schweinfurt, zumal viele jüdische Bürger Handwerker waren und Geschäfte mit guten Waren in der Stadt betrieben, schilderte Hofmann. Mit Hitlers Machtübernahme änderte sich das aber. Der erste Boykott jüdischer Läden im April 1933 und Hetzartikel im NSDAP-Organ „Mainfränkische Zeitung“ trugen zur Vergiftung des Klimas bei. Die Ermordung von Botschaftssekretär Ernst von Rath in Paris durch Herschel Grynszpan war dann der Vorwand für den organisierten Terror 1938. Die Schweinfurter Juden erlebten am 10. November unfassbares Leid, Schaufenster jüdischer Geschäfte wurden eingeschlagen, Bettdecken aufgeschlitzt, Möbel aus den Häusern jüdischer Mitbürger geworfen.
Rechtzeitig traf Klaus Hofmann mit seinen gut 40 Zuhörern zur SPD-Feier in der Siebenbrückleinsgasse ein, der der evangelische Posaunenchor einen sehr würdigen Rahmen gab. Vor zahlreichen Genossen, Gewerkschaftern, Vertretern der Linken, Grünen und Schweinfurter Bürgern nannte Ralf Hofmann den 9. November 1938 einen Tag, der als einer der schlimmsten Tage der deutschen Geschichte gelten müsse. Er schilderte die Plünderung und Entweihung der Synagoge, die Überfälle auf jüdische Schweinfurter, die der damalige Oberbürgermeister Pösl – mit SA-Hose bekleidet – überwacht habe.
Der Novemberpogrom sei von der deutschen Gesellschaft zwar nicht von allen gutgeheißen, aber doch überwiegend stillschweigend hingenommen worden, so Hofmann weiter, der hier daran erinnerte, dass fast alle männlichen Schweinfurter Juden ins Konzentrationslager Dachau in sogenannte „Schutzhaft“ genommen worden seien.
Wenn heute die Stimmen immer lauter würden, endlich einmal die Vergangenheit ruhen zu lassen und Schluss sein müsse mit der kollektiven Schuld, „müssen wir mit aller Entschiedenheit widersprechen“. Das vor allem seit dem Erstarken der AfD, zu deren zumindest mittelbaren Handwerksgerüst die Verunglimpfung von Minderheiten gehöre. Die davon spreche, sich unser Land zurückholen zu wollen, die in Bezug auf das Holocaust-Mahnmal in Berlin von einem Mahnmal der Schande spreche. „Das alles konnte so oder so ähnlich in den 1920er und 1930er Jahren ebenso beobachtet werden“, sagte Hofmann zu einer Partei, die bei der Bundestagswahl in Schweinfurt 16 Prozent der Stimmen erreicht habe. „Ohne Zweifel erwächst aus dem Gedenken an die Schrecken der Vergangenheit die unbedingte Verpflichtung für heute: gemeinsam gegen Neofaschismus, Rassismus und Ausgrenzung einzutreten, die Verpflichtung heißt für jeden von uns jeden Tag: Achtsamkeit und Courage“, sagte Hofmann.
„Erinnerung gilt es zu
lernen, damit sie auch im
Gedächtnis haften bleibt.“
Evangelischer Pfarrer Siegfried Bergler
beim Gedenkgottesdienst in St. Johannis,
Auch Klaus Hofmann sprach am jüdischen Gedenkort, ging auf Fake News, Hasskommentare und Provokationen von Pegida und AfD mit nationalsozialistischen Wortspielereien ein. Auch er erinnerte, dass es solches schon vor 1933 gegeben habe und es deshalb „heute unsere Aufgabe als Demokraten ist, diesen Rattenfängern nicht das Feld zu überlassen“ und nicht wie damals zu schweigen.
In der Sankt Johanniskirche begann mit Ende der SPD-Feier ein von Siegfried Bergler gehaltener Gedenkgottesdienst, dem Andrea Balzer mit ihrem Orgelspiel viel Würde gab. Das heutige Miteinander von Juden und Christen drückte Bergler dadurch aus, dass neben den üblichen Lichtern auch die sieben Kerzen einer Menora brannten. Einmal mehr sprach an einem 9. November außerdem die mit der Geschichte der Juden vertraute Ilse Vogel (Weipoltshausen) zu rund 50 Zuhörern.
Auch sie warnte davor, es „endlich mit den alten Geschichten“ sein zu lassen, wie sie erst wieder gehört habe. „Was unter den Teppich gekehrt wird, ist nicht aus der Welt, im Verborgenen lebt es weiter, der Teppich wird unruhig, bewegt sich, der Unrat drängt ans Licht“, sagte sie. Und weiter: „Im Erinnern liegt das Geheimnis der Erlösung, also das Überwinden und Freiwerden von Schuld.
Ebenso Bergler, der die Notwendigkeit des sich Erinnerns mit einem Zitat des jüdischen KZ-Überlebenden Elie Wiesel untermauerte: „Gestern hieß es: 'Auschwitz nie gehört', heute heißt es gelangweilt: 'Auschwitz, ach ja, ich weiß schon'.“ Deswegen dürften wir „nicht schweigen, Erinnerung gilt es zu lernen und immer wieder einzuüben, damit sie auch im Gedächtnis haften bleibt.“
Ausführlich befasste sich Bergler in seiner Predigt mit der Frage, wo der Mensch, wo die Kirche damals gestanden, warum Gott das alles zugelassen habe.
Eine plausible Antwort zu finden nannte er unmöglich, zitierte hierzu aber erneut Wiesel mit diesem „nachdenkenswerten“ Satz: „Ebenso wenig wie man Auschwitz mit Gott verstehen kann, ebenso wenig kann man es ohne Gott verstehen.“