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144 Minuten bis zur Ewigkeit
GRAFENRHEINFELD/BERGRHEINFELD Irgendwo in der Ferne heult eine Sirene. Unwillkürlich geht der Blick zum strahlend blauen, wolkenfreien Himmel über dem Main. Es herrschte meist "Bombenwetter" wie dieses, wenn die alliierten Bomber von 1943 bis 1945 nach Schweinfurt eingeflogen kamen: Das erste, was man von den Pulks ...
Von unserem Mitarbeiter UWE EICHLER
 |  aktualisiert: 03.12.2006 22:29 Uhr
Geblieben sind von den schweren Luftkämpfen um die Kugellagerstadt - mit hohen Verlusten auf beiden Seiten - ebenfalls nur verschwommene, rote oder blaue Flecken. Harald Katthöfer, der für die Münsteraner Spezial-Firma "Tauber DedeComp" Blindgänger an den Maindeichen bei Grafenrheinfeld aufspürt, zeigt sie auf der Auswertungskarte.

Insgesamt 44 "ferromagnetische Anomalien" im Erdreich - sprich Eisenteile von Bombengröße - hat der Detektor aufgespürt, die nun aus bis zu fünf Meter Tiefe ausgegraben werden sollen. Per Satelliten-Ortung (GPS) wurden die Verdachtsfälle auf den Meter genau eingemessen.

Das Ganze geschieht im Auftrag des Wasserwirtschaftsamtes, das die Vorarbeiten zur Maindeichsanierung beaufsichtigt. Am 30. November ist offiziell Spatenstich, bis dahin muss der 5,6 Kilometer lange Streifen am Main "bombensicher" sein.

Erst jüngst habe die Bomben-Explosion bei Aschaffenburg mit einem Toten gezeigt, wie wichtig derartige Untersuchungen seien, sagt Norbert Schneider vom Wasserwirtschaftsamt. "Lieber zehnmal gesucht und nichts gefunden, als einen Blindgänger übersehen", bestätigt Katthöfer, der einschlägige Erfahrungen bei der Bundeswehr gesammelt hat.

Zusammen mit Kollege Reiner Gensch zeigt der Kampfmittelräumer die bisherige Ausbeute: Vier klobige, erdbraune Klumpen liegen an der Mainbrücke nach Bergrheinfeld. Der Inhalt in den unvollständig detonierten Bomben ist noch immer brandgefährlich: Giftiger weißer Phosphor, schon durch Sonnenlicht entzündlich und vor allem gnadenlos anhaftend, an Gebäuden wie Menschen. Reiner Gensch schaufelt schnell wieder Erde über den rostigen Kriegs-Schrott: Heute ist, wie gesagt, Bombenwetter.

Am Fährhaus, das bei einem Luftangriff 1943 abgebrannt ist, liegen zwei weitere Brandbomben in einem alten Eimer: Massenware aus dem Sortiment des Luftkriegs, die nun in Spezialöfen verbrannt werden muss. Die Brücke, das nahe Fährhaus und eine Flakstellung daneben - dort steht heute ein Feldkreuz - scheinen die englischen oder amerikanischen Bomber angezogen zu haben.

Auf der Deichkrone sind die beiden Experten gerade dabei, einer weiteren Anomalie nach zu graben. Katthöfer hofft, dass es sich wieder mal nur um Schrott und nicht eine unliebsame Überraschung handelt.

Etwa eine Fliegerbombe mit Zeitzünder: Deren Säure-Zündung sollte erst nach bis zu 144 Minuten auslösen, erzählt Katthöfer, wenn die Feuerwerker und Kriegsgefangenen gerade dabei waren, die übrigen nicht explodierten Bomben zu räumen. Oder sie ruht als Blindgänger eine Ewigkeit in der Erde - bis zur finalen Erschütterung.

"Wenn so ein Ding eine schwere Fräsmaschine zerlegt, können sie sich vorstellen, wie erst ein Mensch aussieht", meint der Experte im Gedanken an die Fünf-Zentner-Bombe von Aschaffenburg.

Den klassischen Bombenentschärfer in seinem Erdloch gebe es durchaus noch, so Katthöfer - und genug zu tun habe der auch. Bis zu einer Million Sprengkörper sollen noch unentdeckt in Deutschland herumliegen. Harald Katthöfer kann ob solcher Schätzungen nur müde lächeln: Wer das wüsste! In Nordrhein-Westfalen wird nach drei Dringlichkeitsstufen gesucht, an Blindgängern fehlt es nicht.

Europas Boden ist nun einmal stark eisenhaltig: Katthöfer hat schon auf einem Schlachtfeld im holländischen Venlo gegraben, Gensch im Oderbruch. Dort stößt man - dank der Hufeisen - immer noch auf ganze Pferdeskelette, auf Waffen, Munition und vermisste Gefallene. Der Zweite Weltkrieg lässt den Menschen bis heute keine Ruhe: auch in Schweinfurt nicht.

 
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