Der erste Blick von Karl-Heinz Walz fällt auf meine flachen Schuhe. Gut, sagt er. Da wollte doch allen Ernstes mal jemand in Stöckelschuhen auf den Wasserturm. 186 Stufen, warnt er und fängt gleich an zu erzählen. Vor genau 100 Jahren hat der Gemeinderat des damals noch eigenständigen Oberndorfs den Bau des Wasserturms beschlossen. Vor fünf Jahren hat der Bürgerverein Bergl das denkmalgeschützte Bauwerk gepachtet. Karl-Heinz Walz ist der Ehemann der Vorsitzenden Renate Walz, einer der handwerklich begabten „Männer für alles“ im Verein. Er ist mit der Geschichte des Wahrzeichens vertraut und macht Führungen.
An diesem sonnigen Tag lässt Walz erst einmal frische Luft in das Vereinsheim im Erdgeschoss. Stolz blickt er sich um: alles in Eigenarbeit eingebaut, Fußboden, Decke, Theke und dieses zeitlose, Gemütlichkeit verheißende Mobiliar. In ein winziges Kämmerchen haben die geschickten Vereinsmitglieder eine Küchenzeile gezwängt. „Alles da, was man braucht“, sagt Walz. Wer ein Fest feiern will, kann diesen Raum mieten.
An der Wand hängen Fotos vom Turm aus allen möglichen Perspektiven. Am spannendsten ist das von 1911: eine Gruppe Arbeiter vor dem Rohbau. Das Eisenbetonskelett ist gut zu erkennen. Das königliche Wasserversorgungsbüro München hatte den Turm entworfen, eine Nürnberger Firma baute ihn in dieser Technik an der höchsten Stelle der Gemarkung. Karl-Heinz Walz holt einen Ordner hervor. Es gab mehrere Gründe für den Bau: die Bevölkerung von Oberndorf war gewachsen und auf der Gemarkung hatten sich große Fabriken angesiedelt. Die Stadt wollte zwar mit Wasser aushelfen, aber man fürchtete eine schleichende Eingemeindung. 1911 war Baubeginn. Am 20. April 1912 war Weihe. Dieses Jubiläum wird nächstes Jahr mit einem großen Fest begangen.
Walz zählt weiter auf: der Turm ist 45,30 Meter hoch, der Wasserbehälter liegt auf 28 Metern und fasst 400 Kubikmeter. Das sind 400 000 Liter Wasser oder 800 000 halbe Bier. Diesen Scherz macht er vermutlich bei allen Führungen. Bis nach oben sind es wie gesagt 186 Stufen – anfangs noch auf richtigen Treppen. Im ersten Stock liegt der Probenraum der Vereins-Theatergruppe. Der Raum ist vollgestellt, Bühnenteile, alte Sofas, Dekomaterial und ein Modell des Schweinfurter Rathauses. Hat ein Mitglied gebaut. Über einer Zinne hängt eine Baseballkappe. Auch ein Modell des Turms gibt es, es ist fast so hoch wie ein Mensch.
Ein Stock höher sieht es aus wie in einer verlassenen Theaterkulisse. Nein, sagt Walz, hier wird nicht gespielt, hier im „Weindorf“ wird einmal im Jahr in echt gefeiert. In der übrigen Zeit liegt Staub auf Lauben, Plastik-Weintrauben, Holztischen, alten Fässern und dem bayerischen Küchenkasterl. Als wir durchgehen, tanzen die Staubkörner im spärlichen Licht. Und darüber? Der Leerraum, sagt Walz. Ein faszinierender Raum. Was könnte man hier nicht alles machen. In der Decke ist ein großes Loch. Hier gingen früher die dicken Rohre durch, in denen das Wasser mit Dampfmaschinen aus den zwei nahen Brunnen nach oben gepumpt wurde. Durch ein zweites Rohr stürzte es nach unten. Dabei entstand genug Druck, um das Wasser in die Leitungen zu pressen. Walz bedauert, dass die Rohre irgendwann abmontiert wurden. Nur im Stockwerk darüber sind sie noch zu sehen, stehen wie ein riesiges schwarzes Tier mit fetten Beinen im Raum. Kein Wunder, dass Walz von der alten Technik fasziniert ist.
Jetzt wird die Treppe schmaler. Vorsicht Kopf, warnt Walz. Es wird eng und dann stehen wir im Umgang. Dieser Vorsprung in 28 Metern Höhe ist von außen gut zu erkennen. Ein schmaler Gang führt um den Wasserbehälter im Inneren herum. An jeder Ecke liegt ein Erker mit schmalen Fensterschlitzen. Darüber Zahlen in verschnörkelter Schrift. „Markierung für die Fensterläden, die es im Krieg gab“, sagt Walz.
Die Treppe nach oben ist eine senkrechte Eisenleiter. Also Kameratasche eng an den Körper und hoch in den Dachstuhl. Jetzt stehen wir direkt über dem Wasserbehälter. In der Mitte des vieleckigen Raums existiert noch das alte Pumpenwerk. Eine Luke im Boden ist offen, eine Leiter führt hinunter ins Dunkel. Wasser ist natürlich keins mehr drin, der Turm war nur wenige Jahre in Betrieb, weil der Industrie das Wasser zu hart war und die Heizkessel verkalkten. Walz bedient die alte Handpumpe, die bei Druckschwankungen eingesetzt wurde. Aus der Tiefe ist ein Knarzen zu hören. Er strahlt: es funktioniert noch. Er mag diesen Raum, schwärmt von der ungewöhnlichen Holzkonstruktion des Dachstuhls. Und alles so gut erhalten.
Eine steile Holzleiter führt in die Kuppel. Der achteckige Raum ist der Höhepunkt jeder Führung, im wahrsten Sinn des Wortes. Rundum neue Fenster, die sich öffnen lassen, ein herrlicher Blick in alle Richtungen. Deswegen saß im Zweiten Weltkrieg ein Beobachter hier oben. Bei einem Luftangriff konnte er mit einem Telefon Alarm schlagen. Das kleine Holzbrett, auf dem sein Protokollbuch lag, gibt es noch. Das Buch übrigens auch, es wird derzeit restauriert und kommt dann wieder in den Turm. „Wo es hingehört“, beugt Walz etwaigen Ansprüchen von außen vor. Er freut sich über jedes Detail, das erhalten ist: die alten Porzellanknöpfe der Stromversorgung oder die Einträge früherer Handwerker. Am 2. Oktober 1958 hat sich ein Rudi Simon auf einem Balken verewigt.
Über uns hängen zwei Holzleitern. Auf meinen fragenden Blick sagt Walz, dass er nicht empfehlen würde, noch weiterzusteigen. Er selbst hat es nur einmal gemacht und nie wieder. Durch eine Klappe ganz oben kann man aufs steile Dach hinaus. Ich verzichte, trotz der Einschusslöcher, die es dort zu sehen gibt. Im übrigen hat der Turm den Krieg gut überstanden. Vor 20 Jahren bekam er einen neuen Außenanstrich, vor zwei Jahren wurde die Kuppel restauriert.
Auch die modernen öffentlichen Toiletten im Untergeschoss hat sich die Stadt einiges kosten lassen. Wieder zurück auf der Erde soll ich sie mir unbedingt ansehen, vor allem die für die Männer. Karl-Heinz Walz schüttelt den Kopf. Nicht nur über den Haufen Abfall vor der Tür, sondern vor allem über die obszönen Kritzeleien auf den schönen neuen Kacheln. Dass Leute so mit einem Gebäude umgehen, das kann er nicht verstehen.
Geschichte des Wasserturms
Der Wasserturm diente als Reservoir für die Bevölkerung des ehemaligen Bauerndorfes Oberndorf, die auf über 3000 Einwohner angewachsen war und zur Druckerhöhung. Durch die Schwerkraft beim Fall wurde der Druck so hoch, dass auch die obersten Wohnungen versorgt werden konnten. Er diente aber nur wenige Jahre seinem Zweck, schreibt Erich Schneider, Leiter der Museen und Galerien, in einem Artikel über „100 Jahre Wasserturm“. Das aus dem Oberen Muschelkalk gewonnene Wasser war mit 35 Grad deutlich härter als das Schweinfurter mit 16 Grad und wurde von der Industrie abgelehnt, die eine Verkalkung ihrer Heizkessel fürchteten. Bald nach der Eingemeindung Oberndorfs 1919 wurde der Turm still gelegt. Er steht unter Denkmalschutz und wurde 1974 und 1995 renoviert, später wurden neue Fenster eingebaut.
Lange Jahre war es still um das Wahrzeichen. 1974 dachte man über ein Turmcafé, ein Jugendzentrum oder eine Altenbegegnungsstätte nach. Die Pläne scheiterten an den Kosten. Ab Ende der 1970er Jahre gab es im Erdgeschoss eine Werkstätte für arbeitslose Jugendliche. Seit Juni 2004 hat der Bürgerverein Bergl den Wasserturm gepachtet und in 2800 Stunden ehrenamtlicher Arbeit renoviert.