zurück
OSTHEIM
Zuhause in einer Senioren-WG
_
Susanne Schmitt
 |  aktualisiert: 27.04.2023 05:41 Uhr

An der Wand hängen die Erinnerungen. Farbfotografien der Kinder. Ein schwarz-weißes Porträt aus der eigenen Jugend. Gegenüber Bilder vom 80. Geburtstag und einem Kurzurlaub in Südtirol. Alle ordentlich gerahmt. Elisabeth Lauperts Blick wandert über die Aufnahmen. Ein bisschen wackelig richtet sich die kleine Frau aus dem plüschigen Sessel auf, zeigt auf einen Schnappschuss. Stolz schimmert in ihren wachen blauen Augen. Ihre Tochter und die beiden Söhne. Sie wohnen teilweise weit entfernt, ihr Mann ist lange tot, das Haus verkauft. „Ich wäre schon gerne Zuhause, aber wenn niemand mehr da ist…“ Der Satz bleibt unvollendet. „Alleine kann ich ja nichts mehr machen.“ Die 90-Jährige seufzt. „Hier ist es besser, da hat man Hilfe.“

Im April ist Elisabeth Laupert in die Senioren-WG am Reiterhof in Ostheim (Lkr. Rhön-Grabfeld) gezogen. Acht Männer und Frauen leben in der Wohngemeinschaft, teilen Küche, mehrere Bäder und Aufenthaltsraum. Fast wie Studenten. Und doch ganz anders.

Vor gut sieben Jahren wurde das Haus renoviert und barrierefrei ausgebaut.

Das langgezogene weiße Haus am Waldrand war einst eine Unterkunft für Jugendliche. Vor gut sieben Jahren wurde es renoviert und barrierefrei ausgebaut. Statt Stufen führt nun eine Rampe zur Haustür, leicht begehbare Duschen ersetzten Badewannen, alle Betten sind höhenverstellbar. „Da das gesamte Gebäude zu groß für eine Familie ist, entstand die WG-Idee“, sagt Vermieterin Gertrud Schnupp. Sie bewohnt mit ihrem Mann den Nachbarhof, Tochter Christine führt den angrenzenden Reiterhof. Für Schnupps gehören die Senioren „irgendwie zur Familie“. Man „hält immer mal ein Schwätzchen“, hilft bei der Gartenarbeit, feiert Sommerfeste, Geburtstage oder Nikolaus gemeinsam. Und trotzdem: „Das selbstbestimmte Leben in der WG ist wichtig“, sagt Gertrud Schnupp. Die Familie fungiert nur als Vermieter, alle Bewohner sind für sich selbst verantwortlich und werden ambulant von Pflegekräften betreut. Wie umfangreich die Pflege ist, entscheidet jeder Senior individuell. Oder seine Angehörigen.

Genau dieser Spagat zwischen Gemeinsamkeit und Eigenständigkeit definiert die WG. Der helle Aufenthaltsraum mit samtbezogenen Sofas, Kaminofen und rustikalen Schränken wird von allen genutzt. Zahlreiche Illustrierte stapeln sich auf dem Tisch, die Wände schmücken Landschaftsbilder. Auch die Küche und die Badezimmer sind Gemeinschaftsräume. In ersterer hat jeder seinen Stammplatz, in letzteren seine angestammte Zeit zur Nutzung. „Wann wer ins Bad kann wird abgesprochen, wie in jeder WG“, sagt Gertrud Schnupp. Sie steht im Gang, der sich einmal durch das ganze Gebäude zieht. Breit genug für Rollstühle und Rollatoren. Links und rechts führen die Türen zu den Zimmern der Bewohner. Dahinter beginnt der private Raum.

„Alleine kann ich es nicht mehr.“

Elisabeth Laupert wohnt gegenüber der Küche. „Es ist schön hier“, sagt die 90-Jährige aus Neustädles. Sie sitze gerne mit den anderen Bewohnerinnen im Hof und ratsche. Oder spaziere ein Stück mit dem Rollator. Früher habe sie bei Siemens gearbeitet, dann geheiratet und den Haushalt geführt. Kochen, putzen, Holz machen. Zu erledigen gab es immer was. „Nichts zu tun, das bin ich gar nicht gewohnt“, sagt sie. Und wieder der Satz: „Aber alleine kann ich es nicht mehr.“

In der WG unterstützen Fachkräfte des ambulanten Pflegedienstes Peschke aus Mellrichstadt die Bewohner im Alltag. „Die pflegerische Versorgung wird je nach Pflegegrad vereinbart“, sagt Leiterin Sabina Peschke. Für hauswirtschaftliche Arbeiten bietet der Dienst eine Art Paket zu einem festen Preis an. Dazu gehören etwa die Reinigung der Gemeinschaftsräume und der Zimmer, aber auch der Einkauf oder das Kochen. Das können die Bewohner nutzen, sie müssen es aber nicht. „Wir können kein Altenheim ersetzen“, sagt Peschke. Das ist aber auch gar nicht das Ziel.

Wichtig ist es, die Selbstständigkeit der Bewohner soweit wie möglich zu erhalten.

Generell seien ambulant betreute Wohngemeinschaften eine sinnvolle Alternative zu Pflegeheimen, sagt Corinna Schroth, stellvertretende Vorsitzende der Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen (BIVA). Gerade auch auf dem Land, wo das Personalproblem in der Pflege durch lange Anfahrtswege im ambulanten Bereich noch verstärkt werde. „Üblicherweise kommen Wohngemeinschaften mit ihrem familiären Charakter dem Leben Zuhause am nächsten“, so Schroth. Allerdings bestehe die Gefahr, dass dem Pflegedienst im Laufe der Zeit mehr und mehr die Verantwortung für das Leben in der Gemeinschaft übertragen werde.

Davor warnt auch Ursula Lenz, Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO). „Es ist erwiesen, dass eine gewisse Selbstständigkeit – so gering sie auch sein mag – für das Wohlbefinden von Menschen eine große Bedeutung hat“, so die Expertin.

Deshalb organisieren die WG-Bewohner in Ostheim sich und ihren Alltag soweit möglich eigenständig. Jeder kann morgens aufstehen, wann er will. Frühstücken, so lange er will. Kommen und gehen, wann er will. Alle vier Wochen treffen sich alle zu einer Art Sitzung und sprechen über Wünsche oder Probleme. Der Pflegedienst ist meist von 6.30 Uhr bis 18.30 Uhr da und unterstützt. nachts sind die Kräfte per Notruf erreichbar. „Die Bewohner müssen also dazu in der Lage sein, nachts Hilfe zu rufen“, sagt Sabina Peschke. Oder sich an einen Mitbewohner zu wenden. Das klappe gut, „sie fühlen sich füreinander verantwortlich“.

Fast alle Neulinge in der WG nehmen an Gewicht zu.

Ob eine WG funktioniert oder nicht, hängt laut BAGSO-Sprecherin Ursula Lenz zudem wesentlich von der Toleranz der Bewohner gegenüber den Eigenarten der Mitbewohner ab. Wird in Studenten-WGs etwa über Putzdienste oder zu laute Partys debattiert, müssen Senioren vielleicht über extra lautgestellte Fernseher für Schwerhörige oder doppelt so lange Duschzeiten wegen körperlicher Einschränkungen hinwegsehen. Und: Gerade für alte Menschen sei es wichtig, „dass jeder die Möglichkeit hat, sich zurückziehen zu können“.

So ist es auch in der Rhön häufig. „Die Bewohner reden gerne untereinander oder mit uns“, sagt Hauswirtschafterin Angelika Witzgall. „Aber eine Beschäftigungstherapie wird nicht gewünscht.“ Jeder brauche und suche Zeit für sich alleine. Aber nicht immer.

Kurz vor zwölf. Schon minutenlang zieht der Duft von gebratenem Fleisch durch den Gang. „Essen“, ruft Witzgall. Sie hat ein neues Gericht ausprobiert, einen Auflauf mit Brokkoli, Nudeln und Putenstreifen. „Fast alle nehmen zu, wenn sie neu kommen“, sagt Witzgall. Zuhause, alleine, machte das Essen keinen Spaß mehr, das Einkaufen war zu mühsam. Hier, in Gesellschaft, am großen gedeckten Tisch, schmeckt es wieder. Dementsprechend rasch kommen die Senioren nach Witzgalls Ruf in die Küche, mit Rollator, Gehstock oder im Rollstuhl geschoben. Jeder hat seinen Platz, Gläser mit bunten Schirmen werden flankiert von Tablettendöschen. Gelbe Blumen stehen in der Mitte. An der Wand prangt der Schriftzug „The Kitchen is the Heart of the Home“ (Die Küche ist das Herz des Hauses), gebastelt hat ihn ein Bewohner.

Hunde, Minischweine und ein Ziegenbock – die Tiere sind die Helden der Senioren.

Nach dem Mittagessen legen sich die meisten Senioren erst einmal hin. Wie Zuhause. Hektik gibt es keine im WG-Alltag, das liegt längst hinter den Bewohnern. Der Tag vergeht mit Spazieren, Schwatzen, Kaffee trinken. Und den Tieren.

Ilses Finger zittern leicht. Die Kekspackung knistert. Zwei Hundeschwänze klopfen erwartungsvoll aufs Parkett. Die 93-Jährige beugt sich langsam in ihrem Rollstuhl nach unten. „Ja, ihr bekommt was“, sagt sie und teilt den Kracker gerecht entzwei. Die feuchten Zungen schlecken gierig jeden Krümel von der faltigen Hand. Ilse lächelt. Sie ist die älteste Bewohnerin der Senioren-WG. Und Favoritin der insgesamt vier Hofhunde.

Allerdings leben nicht nur die vier auf dem Gelände. Auch Emil, Pumba und Bobby gehören dazu. Der Ziegenbock und die beiden Minischweine residieren in einem Gehege am Rand des Hofes. „Das Sagen hat Emil“, sagt Angelika Witzgall und nährt sich mit einem gut gefüllten Eimer mit Essensresten den bereits neugierig schnüffelnden Nasen. Kartoffelschalen, Apfelstücke, Kohlrabi. Der Dreikampf um die saftigsten Bissen beginnt. Normalerweise übernimmt einer der Bewohner die Fütterung. Denn „die Tiere sind ein großer Anreiz für die Senioren“, sagt Sabina Peschke. Sie bringen mit ihrer Tollerei zum Lachen, sorgen für Abwechslung und Gesprächsstoff.

Zum Beispiel beim Abendessen. Wieder sitzen alle gemeinsam in der großen Küche. Die regelmäßigen Mahlzeiten geben den Tagen ein bisschen Struktur, die übrige Zeit ist privat, frei. Manchmal zieht sie sich. Wenn Besuch kommt, verfliegt sie zu schnell. „Mein Mädchen und der Bub leben bei Köln. Die sehe ich nicht so oft“, sagt Elisabeth Laupert. Leider. Der eine Sohn aber sei noch in der Nähe. „Der kommt immer“, sagt die 90-Jährige und strahlt. Weil das Gefühl, Zuhause zu sein, das machen letztlich die Menschen aus.

Wohnformen im Alter

Betreutes Wohnen: Senioren leben in den eigenen vier Wänden, bekommen aber Unterstützung im Haushalt. Das Angebot besteht in der Regel aus dem Mietvertrag für die Wohnung und einem Service-Vertrag für die Dienstleistungen – der Begriff ist aber nicht geschützt und wird teils unterschiedlich gebraucht. Nur selten ist ambulante Pflege integriert. Selbstverantwortete ambulant betreute WG: Bei dieser Form sind die Senioren selbst für Hausordnung, Kostenteilung und Buchen des Pflegedienstes verantwortlich. Dafür gibt es keine staatlichen Kontrollmechanismen, wie Regelprüfungen, in der WG. Neben dem engen Zusammenleben mit anderen Bewohnern, bietet die ambulant betreute Wohngemeinschaft den Vorteil, dass die Pflege individueller ist. Trägerverantwortete ambulant betreute WG: Diese Wohngemeinschaft wird von einem Anbieter organisiert. Sie ähnelt oft Kleinheimen und es gibt schärfere gesetzliche Kontrollen. Pflegeheim: Stark pflegebedürftige Senioren sind im Pflegeheim manchmal am besten aufgehoben. Sie werden dort voll versorgt – bei Wohnen, Essen, Unterstützung bei der Körperpflege und medizinischer Betreuung. Laut der BAGSO lohnt sich ein Preis-Leistungs-Vergleich: Denn ein geringer Preis müsse nicht unbedingt eine geringe Leistung bedeuten. Die BAGSO empfiehlteine Vorauswahl an Heimen zu treffen und sie dann vor Ort anzusehen. Einige Heime bieten die Möglichkeit, für ein paar Tage zur Probe zu wohnen. dpa/sp
In der Wohngemeinschaft für Senioren in Ostheim leben alte Menschen eigenverantwortlich, aber betreut zusammen.
Foto: Anand Anders | In der Wohngemeinschaft für Senioren in Ostheim leben alte Menschen eigenverantwortlich, aber betreut zusammen.
_
_
 
Themen & Autoren / Autorinnen
Ostheim
Susanne Schmitt
Einrichtungen und Organisationen für Senioren
Essen
Helden
Pflegedienste
Pflegeheime
Siemens AG
Wohngemeinschaften
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top