Dreißig Jahre ist es her, dass der Eiserne Vorhang nach vielen mutigen und friedlichen Demonstrationen in der ehemaligen DDR durchlässig wurde. Das Gymnasium Bad Königshofen wollte den Schülern einen „Bericht aus erster Hand“ über die Zeit in der DDR vor dem Mauerfall bieten und hatte als Zeitzeugen den Germanisten Dr. Jörg Bilke eingeladen. Er gehört zu den Menschen, die in die Mühlen der DDR-Justiz geraten waren.
Mit dem Moped nach Leipzig
Bilke, in Bad Rodach aufgewachsen, studierte in den Jahren 1958/60 in Westberlin Altphilologie und Germanistik und beschäftigte sich mit DDR-Literatur. Besuche in Ostberlin waren vor dem Mauerbau relativ einfach. Mit eingetauschtem DDR-Geld, Wechselkurs 1 : 1, konnte der Student günstig Bücher der DDR-Schriftsteller in Ostberliner Buchhandlungen kaufen. Wohl recht unbekümmert fuhr er mit einem Moped auf der Autobahn 1959 nach Leipzig, um zwei Bücher des Schriftstellers Erich Loest, der in Bautzen wegen seiner Schriften inhaftiert war, von dessen Ehefrau zu leihen. Von diesem Moment an hatte das Ministerium für Staatssicherheit, die Stadi, Bilke im Visier.
Als er dann 1960/61 sieben DDR-kritische Artikel in einer Studentenzeitung in Mainz veröffentlicht hatte und offiziell mit einem Messeausweis am 6. September 1961 zur Buchmesse nach Leipzig reiste, dort am 9. September die Universität aufsuchte und eine Ankündigung zu einer Pflichtvorlesung über „Die Notwendigkeit zur Errichtung eines antifaschistischen Schutzwalls gegen den Imperialismus“ abschrieb, reichte das aus, um ihn, den Bundesbürger, auf offener Straße zu verhaften. Bis Dezember wurde er von dem Vernehmer 3/5 täglich verhört. Der Prozess gegen Bilke fand am 21./22. Januar 1962 statt, er wurde für seine Artikel und für das Abschreiben vom Schwarzen Brett zu insgesamt drei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus verurteilt.
Arbeit im Braunkohletagebau
Zunächst war er in Torgau inhaftiert. Weil es dort keine Arbeit für Häftlinge gab, wurde er nach Altenburg verlegt und zur Arbeit im Braunkohletagebau eingesetzt. Weil er dieser ungewohnt körperlichen Arbeit nicht gewachsen war, war die nächste Station der VEB BBG Leipzig Süd. Von September 1962 bis zur Entlassung im August 1964 verbrachte Bilke die Haft im Zuchthaus Waldheim. In der gesamten Zeit durfte er einmal Besuch von seiner Großmutter und zweimal von seiner Mutter empfangen.
Bilke schilderte sehr eindrucksvoll, aber ohne Bitterkeit, seine Erlebnisse in der DDR-Haft. Die Bedingungen waren schwierig und belastend. In Torgau musste er mit ansehen, wie zwei Häftlinge brutal zusammengeschlagen wurden, weil sie gegen die Haftbedingungen protestiert hatten. Seine Zelle in Waldheim war exakt 9,2 Quadratmeter groß und mit vier Häftlingen belegt. Die sanitären Anlagen "entsprachen der Zeit nach dem 30-jährigen Krieg". Da wurde das Zuchthaus erbaut. Als Bilke bei einer monatlichen „Seelenprüfung“ – so wurde die regelmäßige Kontrolle zum politischen Sinneswandel genannt – den Zustand der Sanitäreinrichtung bemängelte, antwortete der Wachoffizier, ein Umbau lohne nicht, bis 1972 seien alle umerzogen.
Offizielle Parolen
Immer wieder streute Bilke offizielle Parolen des Regimes ein wie: Die Partei sorgt für Zufriedenheit und Wohlstand oder Der Mensch im Sozialismus steht im Mittelpunkt. Von vielen wurden diese Parolen wohl als blanker Hohn empfunden, wie sie auch Bilke als ein westdeutscher Student in ostdeutscher Haft empfand. So verwundern dann auch nicht die sarkastischen Bemerkungen zu den Ergebnissen der Produktion in der starren DDR-Planwirtschaft wie: Marx ist tot, es lebe Murks! „Ich könnte noch mindestens drei Stunden über diese Zeit erzählen“, sagte Jörg Bilke mehrmals. Er berichtete den Schülern nicht nur über die Haft- und Arbeitsbedingungen oder seine Kontakte zu Mithäftlingen sondern auch über seine Entlassung aus der Haft, die ohne jede Vorankündigung kam. Er wurde von der Bundesrepublik mit 799 weiteren Häftlingen „freigekauft“. In einem Fahrzeug mit der Aufschrift "Frische Fische" ging es vom Zuchthaus Waldheim nach Ostberlin, bis an die Grenze zur Bundesrepublik wurde der Transport von den Rechtsanwälten Vogel, Ostberlin, und Stange, Westberlin, begleitet.
Nach der Wende nahm Bilke 1992 Einsicht in seine Stasi-Akten und erfuhr so auch den Klarnamen seines Vernehmers 3/5. Zu ihm, zu ehemaligen Mithäftlingen, zu dem Anwalt, der ihn im Prozess vertreten hatte und anderen nahm er dann Kontakt auf.
Eine genaue Beobachtungsgabe, ein gutes Gedächtnis, Anteilnahme am Leben der Mithäftlinge und das wache Interesse an den Zusammenhängen des Systems DDR mit seinen Strukturen waren die Grundlage für den so lebendigen Zeitzeugenbericht, dem die Schüler sehr konzentriert folgten. Oberstudiendirektor Wolfgang Klose dankte Bilke am Schluss der Veranstaltung und sagte, die Nacht vom 9. zum 10. November sei in die deutsche Geschichte als die „Nacht der Nächte“ eingegangen.