Liebe Leserin, lieber Leser,
nach dem schmachvollen Kreuzestod Jesu lag für seine Anhänger ihre Vorstellungswelt von einem Reich Gottes auf Erden in Schutt und Asche. Jünger auf dem Heimweg nach Emmaus (Lk.24,21) sagen es frei heraus: „Wir aber hatten gehofft, dass er es sei, der Israel erlösen werde.“ Niemand aus seiner Anhängerschaft glaubte an seine Auferstehung (Mk. 16,11 und Lk. 24,37). Der Apostel Thomas allein – der Ungläubige? Doch bis auf den heutigen Tag bezeichnen wir einen Menschen, der partout etwas nicht glauben will, als „ungläubigen Thomas“. Ist das fair dem Apostel Thomas gegenüber? Ein altes Sprichwort – es könnte von ihm stammen – sagt: „Einmal sehen ist besser als zehnmal hören“. Das ist heute in einer Zeit der ständigen Fake-News-Attacken aktueller und nötiger denn je. Falschmeldungen sind oft von wahren Informationen kaum noch zu unterscheiden. Zweifel haben also erst einmal oberste Priorität.
Und genau dafür steht der Apostel Thomas. Er wird in den Evangelien auch mit dem Beinamen Didymus (Zwilling) genannt. Könnte das nicht heißen, dass Zweifel und Glaube Zwillinge sind, engstens miteinander verwandt? Ist es denn verwerflich, wenn auch Glaubens-willige Menschen Fragen und Zweifel haben? Schlimm wird es erst dann, wenn Zweifler aufhören, nach Antworten zu suchen.
Spätere Überlieferungen erzählen davon, dass Thomas bis nach Indien gekommen ist und dort missioniert hat. Die Christen in Indien nennen sich nämlich bis heute Thomaschristen. In den sogenannten „Thomas-Akten“ wird von seinem dortigen Wirken berichtet. Danach ging der Apostel sehr behutsam auf die „indische Seele“ zu. Der Inder hat ja durch die Lehre von der ständigen Wiedergeburt zum Leiden eine sehr positive Einstellung. Ein Asket erfährt dort Hochachtung. Selbstzucht und Verzicht stehen hoch im Kurs. So störte es die Inder damals auch nicht, als sie von Thomas von „Dem Ewigen“ hörten, der sich erniedrigt hat und Mensch geworden ist. Buddha – er lebte etwa zwischen 560 und 480 v. Chr. – predigte Gleichgültigkeit gegenüber der Welt und Abkehr von ihr. Thomas baute darauf auf und verkündete den nächsten Schritt: die Ausrichtung des Menschen auf den von Gott gesandten Messias, den wahren Erlöser. Auch sah er sein Wirken nicht so sehr unter dem Gesichtspunkt der Ernte, sondern des Säens. „Ich säe nur, andere werden ernten.“ Das soll seine Devise gewesen sein.
Und zu denen, die von Thomas' Saat auch noch ernten dürfen, gehören sogar wir hier und heute. Denn indische Priester, Ordensschwestern und Fachleute in den verschiedensten Bereichen, besonders aus Kerala, einem Musterbundesstaat im Südwesten Indiens, stärken und bereichern das christliche und soziale Leben in unserem mehrheitlich leider konfessionslosen Deutschland. Nicht zuletzt dank eines „ungläubigen“ Apostels Thomas!
Foto: Fred Rautenberg
Der Autor: Hermann Spiegel ist
Rektor i. R. der Grundschule Nordheim