Es ist ein alter Brauch, liebe Leserin, lieber Leser, in der Passionszeit den Kreuzweg zu beten. Das heißt, betend den Weg nachzugehen, den Jesus von der Verurteilung bis zu seinem Tod gegangen ist. Dahinter stand und steht das Bestreben, die Ereignisse um das Leiden und Sterben des Herrn den Gläubigen möglichst anschaulich vor Augen zu führen. Wer konnte denn damals schon alles in den Schriften nachlesen?
Der erste Kreuzweg in Jerusalem bestand nur aus zwei Stationen: Die erste war die Burg Antonia, die zeitweilige Residenz des Statthalters Pontius Pilatus, der dort Jesus zum Tod verurteilte. Die zweite die "Schädelhöhe" Golgotha, wo Jesus am Kreuze starb. Diesen Weg gingen schon die ersten Christen der Urgemeinde. Erst im Laufe der Zeit kamen weitere Stationen dazu. Noch heute heißt dieser Weg in Jerusalem "Via Dolorosa", der "Schmerzhafte Weg".
Im deutschsprachigen Raum kannte man anfangs nur sieben Stationen, dann fügte die Volksfrömmigkeit sieben weitere dazu, welche aber in den vier anerkannten Evangelien nie erwähnt wurden: das dreimalige Zusammenbrechen unter der Last des Kreuzes (dritte, siebte und neunte Station), die Begegnung Jesu mit seiner Mutter (vierte), die Gestalt der Veronika mit dem Schweißtuch (sechste), die Entkleidung Jesu (zehnte) und Jesu Leichnam auf dem Schoß seiner Mutter (13.). Einige dieser zusätzlichen Stationen werden jedoch im Nikodemus-Evangelium – auch „Acta Pilati" genannt – erwähnt.
Etwa ab dem 14. Jahrhundert baute man Nachbildungen des Jerusalemer Kreuzwegs als richtige Stationshäuschen, meist einen Berg hinauf. Später – etwa um 1700 – wurden die 14 Szenen auch an Kircheninnenwänden dargestellt. Und nach der Liturgiereform des II. Vatikanischen Konzils entstand vielerorts noch eine 15. Station: Jesus ist von den Toten auferstanden. Diese wird als die wichtigste Station betrachtet, denn nicht der Tod am Kreuz und das Grab ist die Endstation unseres Lebensweges, sondern die Auferstehung. Der Kreuzweg ist also keine Sackgasse, die ins Nichts führt, ein "Aus die Maus! Das war's", sondern ein Hoffnungsweg, der uns ein neues Leben erschließt, ein Leben in Fülle, ein unbegrenztes, ein ewiges Leben. Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Karwoche und ein frohes Osterfest.
Der Autor: Hermann Spiegel, Ostheim,
Rektor in Rente der Grundschule Nordheim