„Entschuldige, hast Du einen roten Lippenstift dabei?“ Die circa Zwölfjährige, die da nach Schminkutensilien fragt, trägt nicht Ballerinas, sondern Gummistiefel. Sie posiert nicht vor dem Spiegel, sondern stolziert durch matschigen Wald. Und verschönern will sie nicht sich, sondern Horst Seehofer.
Das Mädchen ist eine von 25 Teilnehmern beim 17. Naturerlebniscamp des Vereins Naturpark & Biosphärenreservat Rhön am Umweltbildungshaus Schwarzes Moor. Bei diesem Zeltlager leben die Kinder im Alter von 9 bis 13 Jahren mit ihren elf Betreuern nicht nur eine Woche in der Natur, sie erleben diese – auf natürlichste Art und Weise – mit allen Sinnen.
Der Horst und die Rotmilane
Doch zurück zu Horst Seehofer. Was ihn zum Schwarzen Moor führt? Weshalb ihm eine Zwölfjährige roten Lippenstift verpassen möchte? Gemeint ist natürlich nicht der Politiker himself. Vielmehr soll der Horst, eine Art Baumhaus-Nest der Rotmilan-Gruppe, das fünf Kids samt zweier Betreuer in luftigen Höhen als ihr Lager errichteten und irgendwann liebevoll ihren „Horst Seehofer“ nannten, seinen letzten Anstrich erhalten. Am besten in Rot. Am Ende geht es auch ohne Lippenstift.
Der Rotmilan ist eines von fünf Gruppentieren, denen die Camp-Teilnehmer am ersten Zeltlagertag zugeteilt wurden. Ob sie eine Woche lang Dachse, Füchse, Birkhühner, Rehe oder eben Rotmilane sind, wurde allerdings nicht einfach ausgelost. Eine der Betreuerinnen sichtete als Waldfee verkleidet im Rauch brennender Kräuter das Charaktertier jedes einzelnen Camp-Teilnehmers - ein für die frisch aus der Zivilisation im Wald angekommenen Kids beeindruckendes Ritual.
Wie und wo ihr Charaktertier lebt, was es frisst und wer es bedroht, das erfuhren die Kinder anschließend in Kleingruppen. Die entsprechenden Tierlaute wurden zu Gruppenrufen. Ihr theoretisches Wissen, wo und wie ihr Moortier schläft, konnten sie am nächsten Tag beim Lagerbau praktisch umsetzen. Ein dem Umweltbildungshaus zugehöriges Waldstück war die Spielwiese,
Vorgaben gab es keine. Zeltlagerleiter und Umweltbilder Maik Prozeller ist es wichtig, dass sich die Kinder frei in der Natur bewegen und diese selbstständig begreifen. Verbaut wurden denn Äste, Zweige, Moos und Laub. Werkzeuge, Seile, Farben und Lehm nahmen die Kids zur Hilfe, um sich mit viel Engagement ihr Lager zu schaffen, das ein oder andere sogar mit Nutzgarten, Ausguck und Mobiliar. Ob hoch oben oder tief im Dickicht, der Kreativität waren keine Grenzen gesetzt. Und wenn die Kräfte schwanden, konnte man sich unter Anleitung von Umweltbilder Alexander Fromm im Lehmofen seine eigene Pizza backen.
Highlight der Woche war stets das abendliche Sitzen am Lagerfeuer, bei schlechtem Wetter im Jurtezelt. Da wurde geschnitzt, musiziert und geplaudert. Und wenn Geschichten vorgelesen wurden, lauschten selbst noch die 13-Jährigen gebannt, bevor alle todmüde in ihre Zelte stolperten.
Am nächsten Morgen ging es schließlich wieder zeitig raus. Für die Gruppe, die Frühstücksdienst hatte, schon um sieben Uhr. Dass gemeinsam in der Natur leben auch gemeinsam anpacken heißt, hatten alle Kids schnell akzeptiert. Selbst das tägliche Kloputzen lief gegen Mitte der Woche fast reibungslos. „Ich putz‘ die Pissoirs“, stürzte ein Junge in Gummihandschuhen euphorisch Richtung Männertoilette, froh dem Frauenklo entronnen zu sein. „Das ist der Lappen für die Spiegel“, konnte ihn ein Betreuer gerade noch rechtzeitig zurückpfeifen.
Der Natur begegneten die Kinder im Laufe der Woche auf unterschiedlichsten Ebenen: Wenn sie morgens um sechs Uhr von Vogelgezwitscher geweckt wurden. Oder des Nächtens aus ihrem von Regen durchnässten Zelt flohen, um kurz darauf selig in Decken eingekuschelt im Gruppenraum des Umweltbildungshauses weiterzuschlafen. Barfußlaufend durch ein Matschloch und beim Gummibärchen-Jagen im Rahmen eines Rotmilan-Spiels. Mit verbundenen Augen im Wald („Ich habe plötzlich gespürt, dass da ein Baum neben mir war“) ebenso wie beim Nachtspiel in der Finsternis („Ich hab ja daheim schon Angst vor Einbrechern“).
Zeckenbiss als Naturerlebnis
Sie lasen Fährten und sammelten Kräuter für eine selbstgemachte Kräuterbutter. Aus Lehm formten sie Perlen, aus Federn fertigten sie Schmuck. Als Naturerlebnis verbuchen mussten die Kids aber wohl oder übel auch den ein oder anderen Zeckenbiss oder Erdwespen-Stich. Diesen kleinen Wehwechen zum Trotz überwog am Ende bei allen die Begeisterung. „Drei Zecken“, war die Bilanz einer Mutter am Tag nach dem Zeltlager. „Aber: So euphorisch hab ich meinen Jungen noch nie erlebt.“