Wir wissen, dass diese Mittsommernachtsaffäre voller ungezügelter Leidenschaft böse endet. Fräulein Julie, das Grafentöchterchen, wird das von ihrem unstandesgemäßen Liebhaber in die Hand gedrückte Rasiermesser nehmen und sich die Halsschlagader aufschneiden: in August Strindbergs Tragödie von 1889 wie in der Kammeropernadaption des belgischen Komponisten Philippe Boesmans von 2005, die jetzt in einer Inszenierung von Lars Wernecke in den Meininger Kammerspielen zu sehen ist.
Julie entkommt ihrer Geschichte und ihrem Milieu nicht. Und der Diener Jean ebenso wenig. Er wird seinen Herren weiterhin die Stiefel putzen. Und das Publikum des Jahres 2018 rauft sich die Haare, wenn es sich auf das unfassbare, unberechenbare Für und Wider der Klangwelten einlässt, das Leidenschaft, Hoffnung und Verzweiflung der Betroffenen ausdrückt: „He, Julie, warum tust du das? Das ist der Typ doch gar nicht wert!“ Oder: „Zieht doch zu dritt in die Schweiz und lebt glücklich und zufrieden bis an euer Lebensende.“
Gefangen im Herrschafts-Gesinde-Milieu
Aber so, wie Mezzosopranistin Carolina Krogius als Julie, Sopranistin Monika Reinhard als Magd Kristin und Bariton Marián Krejcík als Jean verdammt nahe am Publikum die Charaktere mimen und in Sangesworte fassen, wissen wir, dass das nicht geschehen wird. Die drei sind im Herrschafts-Gesinde-Milieu des 19. Jahrhunderts gefangen, wo ein reicher Herr zwar jederzeit ohne gesellschaftliche Ächtung eine Magd verführen konnte, eine Dame jedoch im umgekehrten Fall sofort zur „Hure“ degradiert wurde.
Irrungen und Wirrungen
Trotzdem sind einige der Irrungen, Wirrungen und Wallungen im Stück (Libretto von Luc Bondy und Marie-Louise Bischofsberger) so fundamental, dass wir sie sofort wiederkennen, selbst wenn die Protagonisten in fremden Gewändern auftreten und sich die Tragödie im nahezu abstrakten Raum ereignet (Helge Ullmann entwarf blutrote Elemente der Gesindeküche, mit kantigen weiße Säulen und eine Balustrade an der Seite, hinter der sich das Orchester positioniert). Wir verfolgen hautnah, wie die Menschen zögern und hoffen. Wie sie kokettieren und verführen. Wie sie mit dem Feuer spielen. Wie aus Begehren Begierde wird und Hass und Verzweiflung.
Wie sie dulden und sich dem fügen, was sie ihr Schicksal nennen. Wie das in ihnen rumort, was sie in Kindertagen prägte. Wie die einen Leid ignorieren und die anderen daran zerbrechen und dritte sich in Zynismus suhlen. Wie sie sich an ihren kleinmütigen Glauben klammern, an ihre Träume, oder wie sie im Strudel der Ereignisse untergehen.
Geschichte geht ans Herz
Dass uns das Geschehen so nahe kommt, hat zwei Gründe. Man spürt die glaubwürdige Kommunikation zwischen Krogius, Reinhard und Krejcík, bis ins kleinste Mienenspiel. Man spürt die Vertrautheit der Künstler und ihre Empathie für die Rollencharaktere. Und zum anderen: Boesmans disharmonische, von feinsten Ziselierungen bis zu monumentalen Klangbildern changierende Tonsprache interpretiert die Kammerorchesterbesetzung der Meininger Hofkapelle unter Leitung von Mario Hartmuth empfindsam und kongenial zu Tonsprache, Mimik und Gestik der Sänger.
Wenn das Licht verlöscht
Weder in der Musik noch im Spiel gibt es harmonische Ruhepunkte. Für Augenblicke glauben wir zwar, romantische, sehnsuchts- und hoffnungsvolle Töne zu hören. Bevor wir diese Eindrücke allerdings festhalten können, verflüchtigen sie sich wieder, werden von atonalen Klangfeldern der verschiedenen Instrumentengruppen regelrecht aufgesogen, in die sich die tiefen, dumpfen Schläge der Basstrommel leitmotivisch immer wieder ins Geschehen mischen. Bis das Unvermeidliche geschieht, das Licht verlöscht und das Publikum 2018 nach Hause geht und sich fragt: „Julie, warum tust du das?“
Es gibt nur noch drei Vorstellungen: am 18. Februar, 9. und 24. März, jeweils um 20 Uhr. Karten unter Tel. (0 36 93) 451 222, www.meininger-staatstheater.de