Was hat eine italienische Nacht mit der Öffnung des "Eisernen Vorhangs" zu tun? Auf den ersten Blick wenig. Aber ohne die Ereignisse vor drei Jahrzehnten wären die vielen Besucher an diesem Abend im Kloster Wechterswinkel wohl nicht in den Genuss gekommen, die Künste einer Eva Smirnova live zu erleben. Die mehrfach ausgezeichnete Pianistin, die in St. Petersburg geboren ist und schon ab dem sechsten Lebensjahr Klavierunterricht erhielt, hat erst nach der Wende Gelegenheit erhalten, auch im Westen aufzutreten. Es ist schon ein unvergessliches Erlebnis, die "Grande Dame" am Steinway-Flügel im Kreiskulturzentrum erleben zu dürfen.
Kaum hat Benjamin Haupt von der Kreiskulturagentur Eva Smirnova angekündigt und vorgestellt, da lässt die Künstlerin schon Taten sprechen. Sie setzte sich ohne große Worte an den Flügel, schloss die Augen und schien ab diesem Zeitpunkt Raum, Zeit und Publikum zu vergessen. Sie taucht ein in ihre Welt der Musik.
Gerade jetzt im November, da graue Wolken, Nebel, Regen und empfindliche Kühle das Wetter bestimmen, ist die Sehnsucht groß nach dem Süden, nach jenem Land, das schon seit Generationen das Fernweh geweckt hat. Gefühlvolle, ausdrucksstarke Werke, die aber auch das südländische Temperament, die Ausgelassenheit und Fröhlichkeit widerspiegeln, lässt sie erklingen, Auszüge aus Werken von Domenico Scarlatti (Sonate d-Moll; Sonate C-Dur), Gioachino Rossini ("La danza"), Vincenzo Bellini (Introduction et Polononaise de lòpéra "I Puritani"), von Gaetano Donizetti (Reminiscenses de Lucia "die Lammermor") und von Guiseppe Verdi (Miserere du Trovatore; Paraphrase de concert sur Rigoletto). Natürlich darf dabei auch "Der Herbst" aus Antonio Vivaldis berühmten "Vier Jahreszeiten" nicht fehlen. Meisterhaft, ja einfach genial, ist das Klavierspiel von Eva Smirnova, von deren Spiel bereits in jungen Jahren von der technischen Brillanz, Klangschönheit und Ausdruckskraft auch der große Arthur Rubinstein tief beeindruckt gewesen war.
Nach der Pause legte die Meisterin die Messlatte noch höher. Sind schon "Venezia e Napoli" und "Sonetto del Petrarca Nr. 123" von Franz Liszt echte Herausforderungen und schwer zu spielen, so ist "Capriccio Italien op. 45" von Pjotr Iljitsch Tschaikowski mit seinen vielen Tempi- und Rhythmuswechseln eine Aufgabe, die wohl nur wahre Könner ihres Fachs so meistern können. "Aber schwere Stücke spiele ich am liebsten", gesteht die Ausnahmekünstlerin wenige Minuten zuvor und beweist das anschließend auch eindrucksvoll. Kräftig setzt sie die passenden Akzente.
Wo nimmt diese Frau diese schier unglaubliche Energie für ihr fast zweistündiges Klavierspiel her? Eine Frage, die sich sicher viele Zuhörer an diesem Abend stellten und die nach zwei Zugaben - darunter "oh cara mamma mia" (bei uns besser bekannt als "Mein Hut, der hat drei Ecken") - mit minutenlangen stehenden Ovationen eine Künstlerin feierten, an der das Alter spurlos vorüber zu gehen scheint. Schon freut man sich auf ihr nächstes Gastspiel.