FC Bayern München gegen Werder Bremen und SpVgg Unterhaching gegen Bayer Leverkusen. So lautete im Mai 2000 das Nahduell im Titelkampf am letzten Spieltag der Fußball-Bundesliga. Wer wird Meister: Erstmals überhaupt Tabellenführer Leverkusen? Oder doch wieder Titelverteidiger und Verfolger Bayern München? Bayer hatte drei Punkte Vorsprung vor Bayern, und bis heute bin ich überzeugt davon, dass das Horn von Haching das Spiel und den Kampf um die deutsche Fußball-Meisterschaft 2000 mit entschieden hat: Keine Sirene, wie andere Stadien sie nutzen, um die Zuschauer auf wichtig Neuigkeiten aufmerksam zu machen – nein, das tiefe "Tuuuut" kam daher wie das tiefe Nebelhorn eins Schiffes.
Begegnungen auf dem Weg zum Spiel
Stunden zuvor hatte ich auf dem Weg von Würzburg nach München zum Spiel im Unterhachinger Sportpark an der Raststätte Köschinger Forst Fußballfans aus Unterfranken getroffen. Heribert Sterzinger aus Sulzfeld (Lkr. Rhön-Grabfeld) war mit seinen Freunden auf dem Weg ins Münchner Olympiastadion – und macht kein Geheimnis aus seinem liebsten Wunsch: "Ich hoffe, Sie sehen einen Hachinger Sieg." Er war schon im Jahr zuvor im Olympiastadion, als die Hitzfeld-Elf Meister wurde. Jetzt würden er und 54 weitere Anhänger des Fanclubs aus der Rhön gerne erneut die Bayern als Meister sehen.
Dabei konnte an diesem letzten Spieltag eigentlich gar nichts mehr schief gehen für die Leverkusener Elf von Christoph Daum. Die Bayern mussten gegen Werder Bremen im Olympiastadion gewinnen, was nach den zuvor gezeigten Leistungen eher nicht zu erwarten war. Unmöglich schien auch, dass Bayer mit seinem aufstrebenden Jungstar Michael Ballack ausgerechnet gegen Außenseiter Unterhaching verlieren würde.
Die Experten der Sportredaktion wurden in Frankfurt, Nürnberg und im Olympiastadion in München gebraucht. Aber selbst einem Laien wie mir war bei einer so klaren Ausgangslage zuzutrauen, ein paar verständliche Eindrücke zur Übergabe der Meisterschale an Leverkusen in Unterhaching zu Papier zu bringen. So kam ich zu meinem ersten Bundesliga-Einsatz.
Ein vergessener Fan
Während die Bayern-Fans aus Unterfranken also zum Weißwurst-Frühstück in die Raststätte gingen, wollte ich weiterfahren – als mir Peter Turowski fast vors Auto lief: An der Jacke erkennbar als Fan von Bayer Leverkusen, atemlos und ziemlich verzweifelt. Auf dem Weg nach Unterhaching hatte er hier einem unaufschiebbaren Drang folgen müssen. Und der Bus seiner Freunde war einfach ohne ihn weitergefahren.
Wir informierten per Handy seine Freunde im Bus und hechelten im Auto hinterher. Was lästig war: Turowski sang auf meinem Beifahrersitz unentwegt das Loblied auf Christoph Daum und Rainer Calmund, Ulf Kirsten und Michael Ballack. Innerlich musste ich ihm ja schweren Herzens recht geben. Die Saison stand wirklich ganz im Zeichen der begeistert aufspielenden Leverkusener. "Heute holen wir die Schale", versicherte mir Turowski. "Leverkusen kann gar nicht verlieren." Ich widersprach nicht einmal. "Du bist doch nicht Bayern-Anhänger, oder?" fragte er dann doch mal. Ich schwieg.
Er hatte dann wohl doch Angst, dass ich ihn unterwegs raussetze: "Na ja, nächstes Jahr werdet ja doch wieder ihr Meister." Zwei Telefonate und 30 Kilometer später hatten wir den Bus eingeholt: Auf dem Seitenstreifen wartete eine Gruppe grinsender Leverkusen-Fans auf die Wiedervereinigung mit Peter Turowski. Die angebotene Dose Bier nahm ich nicht mit, aber das Versprechen, die Jungs nach dem Spiel für ein Interview anzurufen.
Ein Lied: "Hundert Jahre sind vorbei, Uli Hoeneß"
Die Meisterschale stand schon – zwölf Kilometer vom Olympiastadion entfernt – in Haching bereit, wie DFB-Chef Egidius Braun, der sie übergeben soll. Und die Bayer-Leverkusen-Fans sangen Spottlieder wie das auf den Bayern-Manager, der ihrem Trainer die Meisterschaft "in 100 Jahren" nicht zugetraut hat: "Hundert Jahre sind vorbei, Uli Hoeneß."
Die künftige Meistermannschaft hatte sich gerade warm gespielt, eigentlich war das Spiel in Unterhaching für sie nur noch Formsache. Man wollte lässig die 90 Minuten bis zur Übergabe der Schale rumbringen. Plötzlich tönte es aus dem Lautsprecher. Tuuuuuuuuut. Die Zuschauer und Reporter horchten auf, als der Stadionsprecher (mit ganz leisem Triumph in der Stimme) meldete: "Tor im Olympiastadion!"
Der Schrecken war kaum verdaut, da dröhnte das Horn erneut: "Tor im Olympiastadion, Bayern führt 2:0"
Trotz inzwischen verklärter Erinnerung an diesen Tag meint man aber, sich selbst als Bayern-Fan an die Reaktion der Bayer-Spieler richtig zu erinnern: Der tiefe, warnende Ton des Horns von Haching schien wie Gift in die Ohren und dann in die Knochen der Spieler um Michael Ballack, des Trainers Christoph Daum und des Managements um Reiner Calmund und Rudi Völler zu fahren. Es wirkte wie lähmend auf die Aktionen des Bayer-Teams.
Als Zuschauer wähnte man sich in dem Moment im falschen Stadion – und war in Wirklichkeit goldrichtig. Denn das 2:0 hätte dem Team um Bayern-Kapitän Stefan Effenberg nichts genutzt, wenn an jenem letzten Spieltag der Tabellenführer Leverkusen beim Außenseiter Unterhaching wenigstens Unentschieden gespielt hätte.
Mit Eigentor die Meisterschaft vergeigt
Vielleicht hätte Leverkusens Michael Ballack nicht das Trikot mit der Unglückszahl 13 anziehen sollen, aber hinterher ist man immer schlauer. Und da ist der lähmende, verwirrende Ton des Horns von Haching. Jedenfalls schnellt in der 21. Minute – wie von der Hand eines bösen Zauberers gelenkt –Ballacks Fußspitze nach vorn, als der Hachinger Danny Schwarz einen eher harmlosen Ball in Richtung Leverkusener Tor kickt. Von Ballacks Fuß taumelt die Lederkugel – vorbei am fassungslosen Keeper Adam Matysek – ins eigene Tor.
Hachings Trainer Lorenz-Günther Köstner bekennt später, er habe angesichts der hervorragenden Saison, die Ballack bis dahin gespielt hatte, keine Freude bei diesem Eigentor empfunden. Mit solchem Mitgefühl ist er an diesem Nachmittag fast allein. 10 000 Hachinger Fans, im Herzen auch ein wenig Bayern-Fans, brechen in lauten Jubel aus. Mit ihnen jubeln im Olympiastadion Heribert Sterzinger und seine 54 Sulzfelder Freunde. Die wissen gar nicht, wo sie zuerst hinschauen sollen: Auf das Spiel oder auf die Anzeigentafel. "Das war grandios", bekennt er noch am Tag danach. "Ich war ganz baff."
Verzweifeltes Anrennen gegen die Niederlage
Während ihre Fans trommeln und singen – einige rütteln schon zornig am Zaun –, rennen Leverkusens Spieler gegen die Niederlage an. Sie dominieren das Spiel, aber ihr Sturm um den immer verzweifelter wirkenden Ulf Kirsten bleibt ungewohnt lau oder scheitert an Unterhachings Torwart Gerhard Tremmel, der an diesem Nachmittag über sich hinaus wächst.
Während das Bayer-Team vergeblich sein Glück sucht, bringt einer der wenigen Konter der Hachinger die Entscheidung. Jochen Seitz flankt auf den frei vor dem Tor stehenden Markus Oberleitner. Der köpft ins lange Eck, ganz Haching, ganz Bayern ist im Himmel – und Leverkusen am Ende seiner Meisterträume. Haching siegt 2:0 und der FC Bayern 3:1. Beide Teams sind punktgleich, die Münchner holen den Titel aufgrund der besseren Tordifferenz.
Hängende Köpfe hier, Jubel dort
Wenig später trägt das Fernsehen die Häme des überglücklichen Stefan Effenberg von München herüber. Der singt am Marienplatz höhnisch in Richtung Leverkusen: "Vize-, Vize-Meister Daum".
In Haching hat Michael Ballack bitter geweint nach seiner Auswechslung, und Ulf Kisten suchte Trost an der Schulter von Manager Rainer Calmund. "Ich werde Uli Hoeneß gleich gratulieren," erklärte er tapfer. Christoph Daum zeigte in der Niederlage Haltung. Er bemühte sich, kühl zu analysieren: Sein Team habe nach einer fantastischen Saison im letzten Spiel nicht entschlossen genug nachgesetzt. "Bei uns in der Kabine herrscht jetzt Totenstille wie auf dem Friedhof von Chicago."
Aufgewühlt von all den Eindrücken ging auch der Reporter nach der Pressekonferenz zu seinem Auto. Auf der Wiese ist es leer. Es schien, als wolle das Schicksal noch einen letzten Farbfleck draufsetzen auf das bunte Gemälde der Ereignisse: Ganz leise schlich sich ein Bus mit Leverkusener Fans vom Hof. Das Schild im Bus: Die Gruppe heißt "Desperados", übersetzt "Die Verzweifelten" – und wie könnte an diesem Abend ein Leverkusener Fanclub besser heißen?
"Hast Du Ballack gesehen?"
Auf dem Weg zurück nach Würzburg blieb noch der Anruf bei Peter Turowski und seinen Freunden. Die sind irgendwo vor mir in der Dunkelheit auf der Autobahn unterwegs, nicht mehr ganz nüchtern und sauer, als ich anrufe. "Hast Du Ballack gesehen?" fragte er. "Der kriegt jetzt von Euch bestimmt 'ne Prämie für das Eigentor." Da bin ich für einen Augenblick sprachlos. Und wünschte mir (aber nur für einen Moment), ich hätte Peter Turowski am Morgen am Rastplatz Köschinger Forst zurückgelassen. Dann reichte es aber doch für ein (langes) Bier am Straßenrand neben dem Bus auf der Raststätte Haidt bei Kitzingen.
Vergeblich versuchte ich 20 Jahre später, ihn anzurufen. Die Handynummer gibt es nicht mehr, Turowski ist Vergangenheit, wie Ballack, Daum und das Horn von Haching. Ob Bayern-Fan Heribert Sterzinger aus Sulzfeld in Unterfranken noch immer Erinnerungen an diese großen Tag hat? "Natürlich", versichert er, als ihn mein Anruf 20 Jahre später von der Gartenarbeit weg holt. In jenen Jahren ist er oft in München gewesen, gerne mit seinen Buben, um ihnen München zu zeigen.
Das ist lange her, aber Heribert Sterzinger ist eingeschriebenes Bayern-Mitglied: Einer von den treuen Anhängern, für die es ein großer Moment ist, am Ende der Saison auf dem Marienplatz zu stehen und hinauf zu jubeln, wenn die Mannschaft auf dem Balkon des Rathauses die Meisterschale präsentiert – selbst wenn sie das auch ein wenig dem Horn von Haching verdankt.