
Da steht er, der bärtige Mann mit dem weißen Haar an diesem schönen Sommertag, die Hände lässig in den Hosentaschen. Die Landesgrenze zwischen Thüringen und Bayern nur einen Steinwurf entfernt.
Die Gruppe junger Menschen, gerade einmal alle um die 20 Jahre alt, hat er längst in seinen Bann gezogen mit dem, was er sagt. Mit der Geschichte seiner Familie. Mit der Geschichte der glücklichen Kindheit seines Vaters an der Stelle, wo sie gerade gemeinsam stehen. Wo nur noch ein paar Steine davon zeugen, dass hier einmal eine Familie über Jahrzehnte gelebt hat. Wo sein Vater seine Frau kennengelernt hat und von wo die Familie 1952, kurz nach Pfingsten, vertrieben worden war. Was sein Vater aber selbst nicht miterlebt hatte, weil er zu dem Zeitpunkt gerade in Meiningen mit schwerem Fieber im Krankenhaus gelegen war.
Wie er, der Sohn, Armin, aus Gotha, inzwischen 69 Jahre alt, also diesen jungen Menschen die Ge-schichte der Familie Bender erzählt, hört die Gruppe aus Schülerinnen und Schülern des Studienseminars der FOS/BOS, die zuvor unbeschwert durch die blühende Natur an der ehemaligen Zonengrenze gelaufen war, immer nachdenklicher zu.
Dramatische Geschichte des Gereuthofes
Bender erzählt von der dramatischen Geschichte des Gereuthofes zwischen dem thüringischen Helmershausen und Filke – einem kleinen Gebiet, das 1952 im Rahmen der „Aktion Ungeziefer“ durch die Staatssicherheit und die Volkspolizei auf Anweisung des Ministerrats geräumt worden war, um damit die Grenze gegen den Klassenfeind in der Bundesrepublik zu festigen und gegen Saboteure und Spione zu sichern.
Für die damaligen Bewohner entlang der innerdeutschen Grenze bedeutete dies am Ende nichts weniger als die Vertreibung aus der Heimat, eine Zwangsumsiedlung weg von den eigenen Wurzeln, schließlich den Verlust von Heim und Hof.
Erinnerungsschilder auf den Ruinen
Auf den Ruinen ihres Hofes haben Armin Bender und sein Vater Erinnerungsschilder mit alten Fotografien aufgestellt. Sie zeigen die Historie des Gereuthofes, der am Ende aufgrund seiner Grenzlage im Jahr 1974 von den Behörden endgültig abgerissen worden war. Selbst im Hochsommer lässt sich die idyllische Atmosphäre des Winters auf einem der Bilder ahnen, das den eingeschneiten Gereuthof zeigt, die Glocken des Pferdeschlittens auf seiner Fahrt in die benachbarten Dörfer Helmershausen oder Schmerbach sind förmlich zu hören.
Letzteres teilt das Schicksal des Gereuthofes, denn auch von Schmerbach ist heute nicht viel mehr übrig geblieben als ein Hinweisschild auf dessen 300-jährige Geschichte und der unter einem alten Baum zugewachsene Friedhof inmitten von Kornfeldern.

Die Geschichte der Umsiedlung
Und dann beginnt Armin Bender mit der Geschichte seiner Familie. Dass am 5. Juni 1952 sein Großvater Wilhelm zu seinem Vater ins Meininger Krankenhaus gekommen war, wo der junge Kurt, Jahrgang 1933, noch geschwächt von einer starken Grippe lag. Dass sein Großvater dem Vater erzählt hatte, es gäbe für den Sohn kein Nachhausekommen mehr auf den Gereuthof.
Gegen halb zehn morgens sei ein Auto gekommen, hatte den Großvater mitgenommen zum Bürger-meisteramt in Helmershausen. Dort die lapidare Mitteilung, dass er zu seinem eigenen Schutz den Hof verlassen müsse, er habe Zeit bis 11 Uhr. Dann, zurück auf dem Gereuthof, seien schon zahlrei-che Männer da gewesen, die Möbel auf einen Lkw verluden. Aus Jena seien diese Fahrzeuge gewesen, ihr Ziel: der Verladebahnhof in Grimmenthal.
Doch zu groß war anscheinend die Masse der Zwangsevakuierten, die bereitgestellten Güterwagen in Grimmenthal reichten nicht aus. Großvater Wilhelm setzte sich kurzerhand auf sein kleines Sachs-Motorrädchen, das er in harten Verhandlungen mit den Möbelpackern vormittags noch auf einen der Lkw hatte schwatzen können, und fuhr nach Meiningen, um dem Sohn Bescheid zu geben.
Die Fahrt dauerte die ganze Nacht
Inzwischen war klar: Die Deportation im Rahmen der „Aktion Ungeziefer“ war von den Behörden un-terschätzt worden, weswegen das wenige Hab und Gut der Benders nicht per Zug, sondern mit dem Lkw weitertransportiert werden musste. Ziel: Der Raum Gotha, wo die Vertriebenen nach der Vor-stellung der Behörden ihre neue Heimat finden sollten. Die Fahrt dauerte die ganze Nacht.

An diesem Punkt der Erzählungen ist es das Funkeln in den Augen von Armin Bender, das auffällt. Die Ungerechtigkeit dieses Tages, die in seinen Ausführungen ohne Verbitterung mitschwingt, ist förm-lich spürbar. Die Frage, ob sein Großvater und sein Vater denn trotzdem Frieden mit sich und Deutschland gemacht hätten, unausweichlich. Und er beantwortet sie mit der Genugtuung über die Geschichte der Jahre 1989 und 1990.
Im Spätherbst 1989, als der Niedergang des DDR-Regimes bereits im vollen Gange war, sei Vater Kurt erstmals mit seinem Bruder Erhard zurück gefahren nach Helmershausen, dann den alten Schulweg heim zum Gereuthof gelaufen und erst durch den Vorgrenzzaun, dem Beginn der Sperrzone, aufge-halten worden. Das Gehöft habe nicht mehr existiert.
1994 bekamen Kurt Bender und sein Bruder ihr Eigentum zurück
Dann, 1994, bekamen Kurt Bender und sein Bruder ihr Eigentum zurück – 42 Jahre nach der Vertrei-bung. Und damit die Geschichte des Gereuthofes nicht vergessen wird, erzählt nun Armin Bender als Enkel, Sohn und Neffe, diese immer wieder und wieder.