Je länger der Winter dauert, desto heftiger zieht Melancholie durch das Gemüt. Beunruhigende Nachrichten, die uns täglich erreichen, rufen Ängste hervor. Angst ist zwar ein schlechter Berater, wohl aber ein ständiger Begleiter unseres Lebens. Gerade jetzt, da die Tage so kurz sind, gibt es zuweilen Gedanken, die wie Schatten auf der Seele liegen.
Ich überlege, wann mir dieses Phänomen "Angst" zum ersten Mal begegnete. Da musste ich weit zurück in meine Kindheit gehen. Da erinnere ich mich an Abende, als ich bei meinen Großeltern geschlafen habe. Wir saßen zusammen in der gemütlichen Wohnküche, der Herd verbreitete wohlige Wärme. Oma saß in ihrem Lehnstuhl und ich zu ihren Füßen auf einem Schemel. Sie hatte ein Märchenbuch in den Händen.
Das Pfefferkuchenhaus hatte es mir angetan.
Ich liebte dieses Buch, denn es war voller Geheimnisse und ein Zauber ging von ihm aus. An Abenden wie diesem durfte ich mir ein Märchen aussuchen und ich entschied mich für "Hänsel und Gretel". Das Pfefferkuchenhaus hatte es mir angetan.
So oft schon hatte ich dieses Märchen gehört und immer galt meine Aufmerksamkeit der bösen Hexe. Aber an diesem Abend war es anders. Oma erfülle mir meinen Wunsch und begann zu lesen. Ganz gespannt lauschte ich ihren Worten. Als sie aber an die Stelle kam, an der der Vater die Kinder allein im Wald zurückließ und die Kinder den Weg nicht mehr nach Hause fanden, verspürte ich zum ersten Mal ein sehr beklemmendes Gefühl – es war Angst.
Die Angst vor der Dunkelheit, Angst alleine zu sein, Angst vor dem Verlust der Eltern und Großeltern. Es war plötzlich nicht die böse, alte Hexe, die mir Angst machte, es war die Tatsache, dass die Kinder sich im Wald verlaufen hatten und was noch viel schlimmer war, dass der Vater sie im Wald zurückließ.
Die Angst, alleine gelassen zu werden
Konnte das nicht auch mir passieren? Was ist, wenn mich Mama und Papa auch zurücklassen und ich den Weg nicht nach Hause finde? Das war für mich so ungeheuerlich, dass ich Oma mit tausend Fragen bombardierte.
Plötzlich wollte ich nach Hause und Oma hatte Mühe, mich von dem Gedanken abzuhalten. Sie beruhigte mich und versicherte: "Das hier sind Märchen und sie erzählen spannende Geschichten aus der Fantasie. Du brauchst dir keine Sorgen machen, dass deine Eltern dich im Wald zurücklassen."
Diese Geschichte beschäftigte mich noch lange und so kam es, dass ich meine Eltern bei Spaziergängen im Wald nie aus den Augen ließ. Immer wieder beschlich mich dieses sonderbare Gefühl, das man Angst nennt.
Im Rückspiegel meines Lebens kann ich sehen, dass es viele Situationen gab, die mir Angst machten. Angst ist im Leben unvermeidlich, Furcht wählen wir selbst. Aus Schicksalsschlägen, die mit großer Angst einhergingen, wurde unerwartet Neues geboren.
Angst ist im Leben unvermeidlich
Das Leben treibt uns immer wieder einmal in die Enge, dann heißt es, trotzt würgender Angst Vertrauen zu haben. Das Vertrauen sagt: "Auch das gehört zum Leben", es erkennt die Gefahr und geht so ruhig wie möglich damit um.
Denke ich zurück an das Märchen, dann sehe ich, wie meine Mutter mich tröstend in ihre Arme nahm und sagte: "Mein kleines Mädchen, wie kannst du nur denken, dass deine Mama und Papa dich jemals alleine zurücklassen? Du bist doch das Wichtigste, was wir haben."
Da war es, dieses Vertrauen, das Sicherheit gab, etwas gegen die Angst, die zu erdrücken scheint. Diese Hände, die bedingungslos festhalten, ein Zuhause, in dem alle Sorgen klein werden, Hilfe in allen Lebenslagen. Das alles hat mir schon als Kind gesagt: "Du darfst dem Leben vertrauen, es wird dich durch alle Höhen und Tiefen führen."
Märchen erzählen von Gut und Böse
Manche Kinderpsychologen sagen, dass Märchen grausam sind. Sie schüren Angst bei den Kindern. Da ist schon etwas Wahres dran. Märchen erzählen von Gut und Böse. Sie sprechen auf ihre ganz besondere Weise davon, dass das Leben gefährlich und die Menschen herzlos und gemein sein können.
Aber sie erschließen auch die wundersame Welt der Geheimnisse und Wunder. Jedes Märchen geht am Ende gut aus. Wer kennt ihn nicht, den befreienden Satz, mit dem fast jedes Märchen endet? "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute."
An den langen Winterabenden wurden viele Geschichten und Märchen erzählt. Fernsehen gab es noch nicht und so saß die Großfamilie am Abend bei Kerzenschein in der warmen Stube zusammen. Da wurden oft gruselige Geschichten erzählt, die uns Kindern eine Gänsehaut über den Rücken jagten.
Märchen und das wirkliche Leben
Mama ermahnte dann, es nicht zu doll zu treiben. Da kam es schon auch vor, dass ich vor dem Schlafengehen erst mal unters Bett schaute. Auch ließ ich gerne die Türe offen, um ein wenig Licht von der Küche zu erhaschen.
Doch manchmal half das auch nicht. Dann machte ich mich mit meinem Kissen und dem Teddy auf den Weg und huschte zu Mama ins Bett. Dort waren alle bösen Geister wie weggefegt. In den Armen der Eltern fühlte ich mich geborgen– das war die Antwort auf meine Angst.
Doch die Zeit der Märchen ging vorbei und das Leben zeigte sein Gesicht, das manchmal den Personen im Märchen glich. Ich begegnete Menschen, die dem "Tapferen Schneiderlein" sehr ähnlich waren. Es gab Situationen, die mich an den "Hans im Glück" erinnerten. Der "Wolf" und die "Böse Fee", auch das bescherte das echte Leben – es sind die Niederlagen, die zum Stolpern brachten und die zeigten, dass nicht alles Gold ist, was glänzt.
Wissen, alles wird gut
So gibt es viele Beispiele, die das Märchen und das wirkliche Leben miteinander teilen. Und immer spielt bei beiden Vertrauen eine große Rolle. Nicht immer verläuft das Leben in geraden, ruhigen Bahnen. Manchmal scheint alles aus den Fugen zu geraten. Im Märchen kommt dann oft ein böser Geist oder eine dunkle Gestalt ins Spiel, die mit List, und eine große Portion Mut besiegt wird.
Wenn uns aber die Schattenseite des Lebens im Griff hat, dann hilft auch uns nur Mut, Glaube und Vertrauen daran, dass am Ende alles gut wird.