Nein, in Patric Seiberts Meininger Inszenierung von Tschechows „Der Kirschgarten“ sind keine Kirschbäume zu sehen. Höchstens als Schattenriss des Geästs auf den brüchigen Fensterscheiben des alten Gutshofs. Blühenden Symbolismus braucht es nicht, wenn man den Gesprächen der Menschen lauscht, die dort gleich in einem Zimmer zusammenkommen. Man benötigt zum Verständnis kein konkretes Bäumchen, wenn sich fast wie von selbst Tore und Türchen öffnen zu den Welten, zu den Sehnsüchten und Illusionen, Anmaßungen, Klugheiten und Dummheiten der Menschen.
Wie selbstverständlich lässt der begnadete Menschenerkunder Tschechow in seinem letzten Stück die Personen auf schwankendem Boden zwischen zwei Epochen aufeinandertreffen: dem nahen Ende der Feudalzeit in der russischen Provinz und der sich abzeichnenden „neuen Zeit“, von der noch niemand weiß, welche Gestalt sie annehmen wird, was auf ihn zukommt. Nicht die verarmte Gutsbesitzerin Ranjewskaja (Ulrike Walther), die mit Tochter Anja (Anna Krestel) und der Gouvernante (Evelyn Fuchs) nach mehrjährigem Aufenthalt in Frankreich zurückgekehrt ist und erfährt, dass dem Gut die Versteigerung droht. Auch nicht ihr Bruder (Hans-Joachim Rodewald), ein Traumtänzer der alten Schule.
Besonders diese beiden hegen eine Sehnsucht nach der verlorenen Zeit der Kindheit, in der der blühende Kirschgarten als Symbol von Wohlstand, Geborgenheit und Ordnung galt.
Töchterchen Anja dagegen lässt sehr schnell von neuen Ideen begeistern. Selbst beim von kapitalistischem Unternehmergeist sprühenden neureichen Nachbarn Lopachin (Vivian Frey) und dem ewig von Arbeit und Zukunft schwadronierenden Studenten Trofimow (Björn Boresch) gewinnt man den Eindruck, dass ihnen der Sinn ihres Tuns bzw. Redens nicht geheuer ist. Nicht anders erscheinen die restlichen Charakterköpfe im Raum – jeder für sich ein eigenes Überlebens-Universum (Meret Engelhardt, Hagen Bähr, Peter Liebaug, Carla Witte und Matthias Herold). Nur der uralte Diener Firs (Peter Bernhardt) scheint zu wissen, was seine Welt zusammenhält.
Die Zuschauer können sich also auf mehr oder weniger geistreiche, kontroverse, gelangweilte und vor allem auf skurrile Konversationen gefasst machen und dem Untergang der alten Welt genauso entgegensehen wie der Abholzung des Kirschgartens. Derweil feiert die illustre Gesellschaft mit Showeinlagen der zaubernden Gouvernante, aus der Zukunft herüberwehenden Discoklängen und Tönen des legendären sowjetischen Barden Wladimir Wyssozki ihren Unter- beziehungsweise Übergang, wie die Passagiere der First Class auf der Titanic. Mit der unerschütterlichen Hoffnung, zu den Überlebenden zu gehören.
Setzt man voraus, dass den Zuschauern die Verhältnisse, die in der Folgezeit das Unterste nach oben kehren, bekannt sind, löst die Inszenierung einige Irritationen aus. Warum hat der russlanderfahrene und assoziationsgeübte Regisseur und Dramaturg Patric Seibert (der die Regie übernahm, nachdem es, dem Vernehmen nach zu Dissonanzen zwischen dem ursprünglich vorgesehenen Regisseur und dem Ensemble gekommen war), warum hat Seibert Ausstatter Helge Ullmann hinterm Gutshof eine hochsymbolische sowjetische Stadtlandschaft installieren lassen? Warum lässt er Töchterchen Anja über alle Epochen in
die postsowjetische Zeit springen, mit dem Maschinengewehr durch die Szene laufen und den russischen Punkprovokateur DJ Stalingrad zitieren? Klar, Seibert will dem Publikum mitteilen, was in den hundert Jahren nach Tschechow aus den Ruinen der alten Gesellschaft erwuchs. Ihm genügt es nicht, Tschechow einfach reden und wirken zu lassen. Will er dem Publikum einen Weg aus dem sentimentalen Erinnerungsmüll vorzeichnen, wenn er der Wutpunkerin Anja wilde Worte in den Mund legt?
Die Ursprungsgeschichte allein würde das aufmerksame Publikum hin- und herreißen, weil Tschechow eben keine eindeutig positiven Leitfiguren kreiiert. Hätte der Regisseur statt seiner Gedankensprünge in die Zukunft größeres Augenmerk auf das Zusammen- und Gegenspiel der Kräfte in den Konversationen gelegt, wäre der Rezensent glücklicher. Für sich allein genommen verkörpern die Schauspieler glaubwürdige – und mitunter sehr komödiantische Charaktere: Ulrike Walther – die stille, liebenswürdig naive Gutsherrin. Hans-Joachim Rodewald – der souveräne Mime eines Gentleman, der nicht begreift, dass seine Zeit vorüber ist. Vivian Frey – der resolute Emporkömmling, der seine Sympathien für die Gutsherrin nicht verhehlen kann.
Sie und die anderen Charaktere typisieren zeitgemäß und tragikomisch ihren Stand auf brüchigem Gelände. Aber im Zusammenspiel wirkt manches etwas steif oder künstlich erregt.
Zu viel des Guten, Wahren und Schrecklichen, das der Regisseur zusätzlich ins Spiel bringt. Bei über drei Stunden Spielzeit fühlt sich das so an, als sei eine dramaturgisch in sich geschlossene Geschichte ohne Not überfrachtet worden. Siggi Seuß
Vorstellungen: 27. Februar, 19.30 Uhr, 25. März, 19 Uhr, 10. April, 15 Uhr. Kartentelefon Tel. (0 36 93) 45 12 22.