Ist Samira Spiegel ein "Wunderkind" ? Fast scheint es so. Sie spielt tatsächlich auf der Violine und begleitet sich dabei gleichzeitig auf dem Klavier. Unmöglich sagen Sie ? Doch sie kann. Das Multitalent aus dem Nachbarlandkreis Bad Kissingen ist ein musikalisches Phänomen und demonstriert es an diesem Konzertabend im Kloster Wechterswinkel gleich mehrfach. Die Künstlerin beherrscht trotz ihres jungen Alters von gerade einmal 28 Jahren sowohl die Violine als auch den Konzertflügel auf fantastische Weise, entlockt beiden Instrumenten unvorstellbare Klänge und beeindruckt, ja verzaubert damit ihr Publikum, das den Konzertsaal des Kreiskulturzentrums bis auf den letzten Platz gefüllt hat.
Und wieso kann sie gleichzeitig Klavier und Violine spielen? Der modernen Technik sei Dank. Eine sogenannte "Loop Station" zeichnet dabei eine Tonspur auf und kann sie in einer Endlosschleife wiedergeben. So begleitet sie ihr Geigenspiel mit dem Klavier und umgekehrt. "Spukhafte Fernwirkung" – so der Titel der 2019er Komposition von Henrik Ajax, mit der sie unter Einsatz dieses "Loopers" einen ähnlichen Effekt bei den Besuchern erzielt.
Das Stuck entstand während des Lockdowns
Ihre Technikaffinität unterstreicht auch das vom selben Komponisten für sie erarbeitete Werk "Verwinkeltes Dasein", bei dem sie sogar noch zusätzlich einen "Octaver", ein Gerät, das dem Instrumentensignal noch eine Oktave hinzufügt, einsetzt. Man spürt, dass das Stück während des Lockdowns in der Coronazeit entstanden ist, da es doch in sehr düsteren Klangfarben gehalten und von Hilflosigkeit und dem Gefühl des Ausgeliefertseins, aber auch des Eingesperrtseins geprägt ist. Einmal mehr zeigt sich Samira Spiegel sehr experimentierfreudig.
Nicht jeder ist an diesem Abend von den modernen, zeitgenössischen Kompositionen angetan, zu denen auch "Cleopatra für Violine solo, op. 34" von Fazil Say zählt. Doch es ist eines der Lieblingsstücke von Samira Spiegel, das sie auch mit großem Engagement und körperlichen Einsatz präsentiert. Dabei bringt sie die vermeintliche Launenhaftigkeit, die großen Stimmungsschwankungen der ägyptischen Königin mit besonderen, neuartigen Techniken beim Geigenspiel deutlich zum Ausdruck.
Von Samira Spiegel geht eine ganz besondere Faszination aus. Und dieser Zauber wirkt bereits beim Auftaktstück, der "Sonate für Violine solo op.31, Nr. 2" von Paul Hindemith. Die junge Künstlerin schließt die Augen, scheint eins zu werden mit ihrer Violine, taucht gänzlich in die Komposition, in die Gefühlswelt des Komponisten ein und lässt dann den Bogen magisch über die Saiten tanzen oder zupft verspielt im dritten Hindemithschen Satz, bevor in fünf Variationen das bekannte Lied "Komm lieber Mai" von Wolfgang Amadeus Mozart mal temperamentvoll, mal melodiös vorgestellt wird. Paul Hindemith hat das Stück mit dem Beinamen "Es ist so schönes Wetter draußen" angeblich beim Blick aus dem Fenster anlässlich einer Zugfahrt komponiert.
So wie man sich die vorbeiziehenden Landschaften beim Zuhören vorstellen kann, so bildhaft musikalisch stellt Samira Spiegel auf dem Steinway-Flügel auch den mystisch angehauchten "Rain Tree" von Toru Takemitsu dar. Den Baum, der in der Trockenzeit den angesammelten Regen zur Erde tröpfeln lässt.
Besonders begeistert sind die Freunde zeitgenössischer Musik
Sehr anspruchsvoll und schwierig, aber umso aufregender, spannender und emotionaler Maurice Ravels "Gaspard de la nuit" mit den genial vertonten Gedichten von der Wassernixe "Ondine", vom schaurigen Totengalgen und dem Poltergeist "Scarbo" sowie Igor Strawinskys "Feuervogel". Die "Standing Ovations" hat sich Samira Spiegel am Ende ihres Konzertes voller Tagträume und Nachtfantasien redlich verdient. Natürlich gibt es auch eine Zugabe. Besonders begeistert sind an diesem Abend die Freunde zeitgenössischer und moderner Musik, die in den höchsten Tönen schwärmen.