
Was vom Abend übrig bleibt? Nichts Weltbewegendes und nichts Staatstragendes, ja nicht einmal eine neue Erkenntnis: Wehret den Anfängen des religiösen Fanatismus. Dafür nimmt man wunderschöne musikalische Impressionen mit nach Hause, ein paar allerliebste folkloristische Bilder, gemischt mit den Grautönen des sozialistischen Alltags. Mit der deutschen Erstaufführung der kasachischen Nationaloper „Abai“ eröffnete das Meininger Theater die neue Spielzeit, inszeniert von Ansgar Haag, unter musikalischer Leitung von Alan Buribayev, 2004 bis 2007 Orchesterchef in Meiningen und Urenkel von Achmet Schubanow, der zusammen mit Latif Hamidi die 1946 vollendete Oper komponiert hat.
Der weltläufige Schwabe Ansgar Haag landete 2010 im kasachischen Almaty und inszenierte dort den ersten „Tannhäuser“ in der Geschichte des Landes. Nebenbei wurde die Idee geboren, „Abai“ dem Meininger Publikum nahezubringen. Über die Motive gerade dieses Kulturexports darf man rätseln. Mit dem Dichter, Aufklärer, Goethe-Übersetzer und liberalem Muslim Abai (1845-1904), einem Versöhner zwischen Tradition und Moderne, können sich auch die heutigen kasachischen Machthaber schmücken, so lange es die ruhmreiche Vergangenheit betrifft. Gegenwärtige Regimekritiker unter den Dichtern und Denkern des Landes wirken da eher als unliebsame Störenfriede, wie etwa der eben gekürte Goethe-Medaillen-Preisträger (!) und Regisseur Bolat Atabayev, den der autokratisch herrschende Präsident Nasarbayev zum Terroristen stempeln lassen wollte. Die künstlerische Freiheit eines der Helden der Oper dagegen, des jungen Dichters Ajdár, darf hymnisch beschworen werden („Nur der Dichter allein kann uns führen!“). So lange sich die Dichtkunst im Hier und Jetzt auf das beschränkt, was wir beim europäischen Song Contest live aus Kasachstan erleben durften, ist die Welt des Regimes in Ordnung.
Moralischer Kern
Wenn sich Haag mit der aktuellen Bedrohung der Menschenrechte in Kasachstan befasst hätte, wäre sein Beitrag zum Dialog der Kulturen glaubwürdiger ausgefallen. So aber tut er niemandem weh, außer vielleicht den in Südthüringen eher selten gesichteten Glaubensfanatikern. Die Abai-Geschichte hat einen hochmoralischen Kern: Es geht um den unüberbrückbar erscheinenden Konflikt zwischen uralter religiöser – hier: radikal islamischer – Tradition und einer neuen, menschenwürdigen Idee von Gesellschaft. Librettist Muchtar Auesow siedelt die Handlung im 19. Jahrhundert an, Haag verlegt das Geschehen in die poststalinistische Ära Mitte der 50er Jahre.
Der junge sowjetische Agitpropkünstler Ajdár (Rodrigo Porras Garulo) verliebt sich in das muslimische Mädchen Azar (Camila Ribero-Souza), das einem anderen versprochen ist. Die Liebe wird entdeckt und sorgt im Kreis religiöser Fanatiker um Zirensché (Stephanos Tsirakoglou) für Empörung. Der Aufwiegler fordert nach dem Recht der Scharia gnadenlos den Tod der beiden. Da taucht der Versöhner Abai (Dai-Hee Shin) auf, bricht eine Lanze für die Selbstbestimmung der Frauen, die Liebe und den gesellschaftlichen Fortschritt und kann sogar den obersten Rechtsprecher, ausgerechnet einen ordensbehängten sowjetischen General (Ernst Garstenauer), von seinen Ideen überzeugen. Die Liebenden dürfen heiraten, bunt und laut, folkloristisch und fröhlich. Doch dann schlägt die Stunde der Fanatiker und ihres Helfershelfers, des abtrünnigen Abaischülers Asím (Xu Chang).
Pathos und Rache
Das eigenartige Ende dieser Romeo-und-Julia-Geschichte kündet – jedenfalls in dieser Inszenierung – nicht gerade von Abais' Weisheit letztem Schluss. Dem Aufklärer wird vom Librettisten nicht nur heftig Pathos auf die Zunge gelegt („Für mein Volk gebe ich alles her“), Abai spricht nach dem Mord am jungen Helden von „Rache dem Feind“, „Du stirbst wie ein Hund“ oder „Sei verflucht, du Feind!“. Da kann sich im Finalchor Goethes „Wanderers Nachtlied“ noch so versöhnlich in den Originalton mischen: Der Versöhner ruft unter dem Eindruck des tragischen Ereignisses zur Rache auf. So etwas wirkt, wie wir heute wissen, eher als Brandbeschleuniger denn als Friedensstifter. Neben solch oberflächlicher, teils unlogischer Figurenführung sind die furchtbar konstruierten Reime der deutschen Übersetzung gewöhnungsbedürftig, die als Obertitel mitlaufen: Herz und Schmerz, Nacht und Zukunftspracht, Qual und Sonnenstrahl, Rudel und Strudel und und und.
Was vom Abend übrig bleibt? Die Musik dieses spätromantisch inspirierten Werkes, sehnsuchtvoll, manchmal zart, manchmal kraftvoll, manchmal programmatisch, pathetisch und gewaltig vom Orchester unter Buribayevs kundiger Führung sehr emotional in Szene gesetzt. Ja, auch das Bühnenbild von Dieter Richter und die Kostüme von Kerstin Jacobssen bleiben in Erinnerung. Graubuntes Volkstum im sozialistischen Realismus (inklusive kasachischen Essensdüften beim Hochzeitsmahl). Chor und Extrachor unter Leitung von Sierd Quarré spielen das Volk, als seien sie aus demselbigen soeben auferstanden. Und, wie so oft, trösten vor allem die nicht nur gesanglich beeindruckenden Künstler, die die schwer verdaulichen Sätze souverän über die Rampe bringen und dabei noch gehörig Empathie mimen – besonders Dae-Hee Shin, Camila Ribero-Souza, Rodrigo Porras Garulo, Xu Chang, Stephanos Tsirakoglou und Ernst Garstenauer.
Was man sich fürs Ende wünscht? Als Beigabe zu den Rosen des kasachischen Botschafters für die Künstler ein vom Goethe-Verehrer Atabayev – wie kürzlich in Weimar bei der Preisverleihung – geflüstertes „Unter allen Wipfeln ist Ruh“. Aber der war nicht da. Dafür hatte sich für die Sonntagspremiere der kasachische Kulturminister angekündigt.
Nächste Vorstellungen: 26. und 29. September, 4. Oktober, jeweils 19.30 Uhr, 7. Oktober, 15 Uhr. Karten: Tel. (0 36 93) 451 222 oder 451 137. www.das-meininger-theater.de