Ein Wagnis. Das Team des Jungen Staatstheaters Meiningen beschäftigt sich mit Anne Frank. Es möchte vor allem jungen Menschen der Generation Z das Leben eines jüdischen Mädchens nahebringen, das nur 15 Jahre alt werden durfte, weil es ein völkermörderisches System so wollte.
In einer Art Stückentwicklung aus Tagebuchauszügen und Spielszenen aus der Gegenwart versuchen Regisseur Peter Thiers und sein Team sich dem Leben des Mädchens zu nähern. Das wohl bekannteste Tagebuch der Welt ist ein erschütterndes Zeugnis der Folgen des Rassenwahns der Nazis. Auch, weil es den Generationen danach Einblicke in die intimste Gefühls- und Gedankenwelt eines einzigen jungen Menschen gibt, bevor er unmittelbar ins Räderwerk der Tötungsmaschinerie geriet.
Familie versteckt sich in einem Hinterhaus
Die Eltern und ihre beiden Töchter Anne und Margot flohen 1933 vor den Nazis nach Amsterdam. Als die systematische Verfolgung der jüdischen Bevölkerung auch in den besetzten Niederlanden ins Rollen kam, versteckte sich die Familie, zusammen mit Freunden, in einem Hinterhaus an der Amsterdamer Prinsengracht.
Zwei Jahre lang blieb das Versteck unentdeckt. Zwei Jahre lang, von Juni 1942 bis August 1944, schrieb sich Anne in ihrem Tagebuch, das sie "Kitty" nannte, ihre Erlebnisse, ihre Gedanken, ihre Träume, ihre Ängste, ihre Hoffnungen, ihre Verzweiflung von der Seele und aus dem Leib. Kitty wurde zur einzigen Vertrauten, zur liebsten Freundin.
Wie gelingt es den Meiningern, diese in ihrem Ausmaß unvorstellbar tragische Geschichte auf ein Niveau, wie man neudeutsch sagt, herunterzubrechen, auf dem man junge Menschen von heute erreicht. Junge Menschen, deren Wissen über die NS-Zeit langsam gegen Null zu tendieren scheint? Indem man eine Rahmenhandlung erfindet, die jenen, die die Leidensgeschichte Anne Franks nur halbwegs zu kennen glauben, erst einmal die Haare zu Berge stehen lässt.
Eine verglaste Sprecherkabine und eine Radiosendung
Ort der Handlung: Radiostation "Oranje FM". Livesendung anlässlich des 75. Jahrestages der Erstveröffentlichung des Tagebuchs. Auf der Bühne (von Helge Ullmann) steht nichts als eine telefonzellengroße, verglaste Sprecherkabine. Am Mikrofon macht sich die junge Moderatorin Merle bereit, die gleich mit flotten Sprüchen und Einblendungen (Musik: Thomas Gatza) das Radiopublikum bei der Stange hält und die live zugeschalteten Höreranrufe souverän abwickelt. Und so eine Lilalaunebär-Sendung soll Anne Franks Leben gerecht werden?
Tut sie. Denn von Minute zu Minute mehr wird die Zelle zum symbolischen Ort der klaustrophobischen Enge und bedrückenden Einsamkeit. Die Moderatorin, die die Geschichte offensichtlich gut recherchiert hat, wandelt sich zur Tagebuch schreibenden Anne. Zwischendurch werden O-Ton-Dokumente eingeblendet, Liveschaltungen, Musik und Moderationen.
Das alles wirkt deshalb so stimmig, weil die junge Schauspielerin Alina Gitt die Metamorphose von Merle zu Anne und von Anne zu Merle mit atemberaubender Glaubwürdigkeit vollzieht. Sie scheint in ihrer Rolle als Anne zu versinken.
Wenn Alina Gitt Passagen aus dem Tagebuch spricht, dann glaubt man die Gedankenwelt der schriftstellerisch ungewöhnlich begabten Anne Frank vor sich zu sehen. Gleichzeitig erscheint das Drama eines pubertierenden Mädchens vor unseren Augen und die Katastrophe der fürchterlichen Selbstdisziplinierung im Versteck.
Doch über allem steht Anne Frank als Symbolfigur für den Völkermord und gleichzeitig für die Wertschätzung jedes einzelnen Menschenlebens. "Zähle", schrieb der Philosoph Günther Anders kurz nach Kriegsende, "und vergiss nicht im Zählen: Jede Eins, die du zu der gezählten Zahl hinzuaddierst, ist in sich schon unzählbar."
Die Meininger Inszenierung könnte gerade wegen des unkonventionellen Zugangs zur Geschichte junge Menschen zum Innehalten und zum etwas anderen Zählen ermutigen. Nicht mehr und nicht weniger.
Nächste Vorstellung: Samstag, 3. Juni, 18 Uhr, im "Rautenkranz". Kartentelefon: (03693) 451 222. www.staatstheater-meiningen.de.