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MEININGEN
Sehnsucht nach einem Ort des Friedens
Von unserem Mitarbeiter Siggi Seuss
 |  aktualisiert: 07.11.2019 19:01 Uhr

Im Programmheft – dessen Lektüre dringend anzuraten ist – im Programmheft zur Meininger Inszenierung von Tankred Dorsts Stück „Nach Jerusalem“ erinnert sich der gebürtige Sonneberger Dorst an ein Ereignis im Coburger Theater seiner Kindheit. Er war zwölf, sehr aufgeregt und erträumte sich, wie die Handlung auf der Bühne nach seinen Vorstellungen hätte weitergehen können: „Extremer, fantastischer, gefühlvoller – meinem Herzen näher.“

75 Jahre später gehört Tankred Dorst zu den wichtigsten deutschen Dramatikern der Gegenwart und kann sich seine Stücke so gestalten, dass sie seinem Herzen näher liegen. Es mag ja sein, dass sich Dorst, seine Lebenspartnerin und Co-Autorin Ursula Ehler und Regisseur Jan Steinbach („Wie ein Stein im Geröll“, „Wahnfried“) einig waren über das Geschehen in der von ihnen überarbeiteten Fassung des Stückes auf der Meininger Bühne: extremer, fantastischer, gefühlvoller. Was aber machen wir mit jenen Menschen im dunklen Zuschauerraum, die zwar nicht mehr zwölf sind, sich aber trotzdem einen anderen Geschichtsverlauf wünschen als den vorgegebenen – ihrem Herzen näher?

Das ist nämlich die Crux dieses Stückes und seiner Inszenierung: Es spielt mit der Verlorenheit von Menschen in unserer gegenwärtigen mitteleuropäischen Welt und mit der unstillbaren Sehnsucht nach einem Ort des inneren und äußeren Friedens. Dem Herzen des Kritikers kommt „Nach Jerusalem“ nur in einzelnen Szenen näher, mehr nicht. Die junge Rose, eine der Suchenden im Stück, hat für ihren Sehnsuchtsort einen Namen: Jerusalem. Ob sie weiß, was Dorst damit meint, spielt keine Rolle. Der Ort könnte auch „Sirius“ heißen und in den Tiefen des Universums liegen. Überhaupt sind die Sehnsuchtsorte der Menschen, die sich im Keller eines unfertigen Hotelneubaus begegnen (Bühne & Kostüme: Lisa Dässler), überhaupt sind deren Träume so unterschiedlich wie ihre Herkunft und ihre Bedürfnisse im Augenblick: Da ist Rose (Meiningen-Debütantin Alexandra Riemann), die Traumtänzerin mit der roten Mütze – freundlich und offen und empathisch. Sie sorgt, meistens jedenfalls, rührend für ihren Freund, das stotternde Hänschen (Lukas Benjamin Engel), das wie ein Harlekin daherkommt. Da ist der spießige und ziemlich triebgesteuerte Frührentner Voss (Matthias Herold), der aus Langeweile überall herumschnüffelt und ungefragt seine Altherren-Kommentare absondert. Dann Otto, der falsche Doktor mit dem Operationsbesteck in der Aktentasche (Harald Schröpfer), ein gefährlicher Psychopath. Und schließlich taucht zwischen den Müllsäcken der Altgediente unter den Sinnsuchenden auf, Meteor (Michael Jeske), der sich mangels Alternativen sein Jerusalem bereits im Keller eingerichtet hat und, wenn er nicht gerade säuft, Zeitungsstapel archiviert. Der Kampf mit seinem Vater, dessen furchtbare Juristenkarriere bereits in der NS-Zeit begonnen hat, scheint den Sohn Jahrzehnte später immer noch schlaflose Nächte zu bereiten. Viel mehr erfährt man über Meteors Vita nicht – und das ist schon erheblich mehr als das, was man über die anderen weiß. Die verwöhnte Schickimickinudel (Anne Rieckhof) aus dem bereits bewohnten Penthouse im elften Stock, die sich auf der Suche nach ihrem „Jochen“ im Keller verirrt und hysterisch herumzickt – ob die sich überhaupt außerhalb ihres Duftkreises Gedanken macht, ist zu bezweifeln.

Was will uns der Autor mit diesen Figuren sagen, die von den Schauspielern zwar mit Leidenschaft zum Leben erweckt werden, aber deren Biografien im Grunde bedeutungslos erscheinen? Dorst steht der konventionellen Dramaturgie eines Stückes ablehnend gegenüber. Der Regisseur tut es ihm gleich. Deshalb können die Zuschauer keine Handlungsleitlinien erwarten und keine biografischen Erhellungen. Aber was dann? Was könnte ihr Herz berühren, trotz der Tatsache, dass die Figuren Teil einer Parabel sind, also Charaktermasken, die der Autor mit seinen Fantasien gefüllt hat, die sie nun in eindreiviertel pausenlosen Stunden unters Volk bringen sollen?

Es gibt ein paar eindrucksvolle Szenen, in denen die Verlorenheit der Gestalten so etwas wie eine biografische Note bekommt. Umarmungen. Gefühle. Begierden – teils ernsthaft, teils ironisch betrachtet. Da sind die Menschen real, bevor sie wieder zu Botschaftern metaphorisch anmutender Gedanken werden. Es ist zu vermuten, dass sich die meisten dieser Gedanken in der Nähe des Depressionszentrums vieler Zuschauer ansiedeln. Konkrete Hoffnung gibt es nicht. Das mag extrem wahrhaftig sein. Dem Herzen näher kommt das Gesehene dadurch jedoch nicht. Dazu bedarf es schon ein bisschen mehr „bürgerliche Dramaturgie“. Denn wer sitzt im Zuschauerraum? Bürger mit hunderterlei Sehnsüchten und Sehnsuchtsorten, egal, ob sie insgeheim verlorene Gestalten sind oder nicht.

Nächste Vorstellungen im Großen Haus: 29. September, 6. Oktober, jeweils 19 Uhr, 30. Oktober, 19.30 Uhr. Kartentelefon: (0 36 93) 45 12 22 oder 45 11 37. www.das-meininger-theater.de

 
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