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Scheißfreundliche Vernehmungen
Newsdesk Main/Rhön
 |  aktualisiert: 16.12.2015 11:02 Uhr

Im Rahmen eines Geschichtsprojekts der Klasse 10d ist Hartmut Richter, ein DDR-Zeitzeuge, ans Martin-Pollich-Gymnasium in Mellrichstadt am 25. Juli 2014 eingeladen worden. Dort ist er mit großem Interesse von den Schülern zu seinem Leben in der Diktatur und als Fluchthelfer befragt worden.

Klasse 10d: Herr Richter, woher kam Ihre oppositionelle Haltung gegenüber dem DDR-Regime?

Hartmut Richter: Das kann man mit einem Satz nicht sagen. Der Mensch ist Produkt seiner Umwelt. Als Kind war ich von all dem überzeugt. Jedoch war es entscheidend, dass ich am 13. August 1961 als 13-Jähriger in Westberlin gewesen bin und gesehen habe, wie sie die Mauer hochgezogen haben. Zuvor war ich oft im Westen, nun ging es nicht mehr. In der achten Klasse war auf einmal mein bester Freund nicht mehr da, da er mit seiner Familie in den großen Ferien geflüchtet ist. Nun erzählten uns die Lehrer etwas über den antifaschistischen Schutzwall. Sie sagten, dass der erste deutsche Bauern- und Arbeiterstaat die Mauer bauen musste, um sich vor Feinden zu schützen. Ich bin dann nicht mehr in die FDJ (Freie Deutsche Jugend) gegangen.

Hatten Sie entscheidende Nachteile, da Sie nicht Mitglied in der FDJ gewesen sind, außer dass Sie kein Abitur machen konnten?

Richter: Mein Lateinlehrer, der auch gleichzeitig mein Klassenlehrer gewesen ist, fragte mich am Anfang der 9. Klasse, warum ich nicht in der FDJ sei. Ich antwortete ihm pathetisch: „Ich möchte diesen Schritt voller Überzeugung tun. Ich bin noch nicht restlos überzeugt.“ Ich wollte ihm nicht sagen, dass ich darauf keine Lust habe. Er hat nur gelacht. Jahre später habe ich mich bei ihm dann bedankt, da keine weiteren Konsequenzen durch ihn folgten.

Wie haben Ihre Eltern über Ihre Haltung gedacht?

Richter: Meine Eltern waren wütend, da ich mich geweigert habe, in die FDJ einzutreten. Sie waren keine überzeugten Kommunisten, wollten aber, dass ich da mitmachen soll.

Sie sind 1966 über den Teltow-Kanal geflohen. Wie verlief die Flucht in der Nacht vom 26. auf den 27. August?

Richter: Meine erste Flucht über die Tschechoslowakei nach Österreich missglückte. Ich bin schließlich auf Bewährung entlassen worden. Im Gefängnis habe ich jemanden kennengelernt, der einen Garten am Teltow-Kanal hatte. Dort begann meine Flucht. Am Teltow-Kanal wohnte niemand und er war auch nicht von Schiffen befahren. Ich war ein guter Schwimmer, da ich trainiert hatte. Für die Flucht selbst habe ich nachts vier Stunden gebraucht, um in die Freiheit zu schwimmen. Es war eine diesige, neblige und wolkige Nacht, ideales Fluchtwetter. Ich war auch sehr traurig, da ich meine Schwester, die Geburtstag hatte, und alle anderen verließ. Es war nicht so einfach, obwohl es nur 900 Meter waren. Ich konnte ja nicht schnell schwimmen, ich musste immer ans schwach beleuchtet Ufer tauchen. So habe ich mich dann vorgearbeitet. Je mehr ich mich der Grenze näherte, desto intensiver war die Beleuchtung. Ans Ufer direkt schwimmen konnte ich nicht, da sich dort Alarmanlagen befinden konnten. Deswegen musste ich im Schilf bleiben. Währenddessen kamen auch Grenzsoldaten mit ihren Hunden vorbei. Ich hatte Angst, dass mich meine Kiefer verraten, die klapperten wie Maschinengewehre, als ich im Schilf saß. Am linken Ufer konnte ich schließlich sehen, dass die eigentliche Grenze begann. Im Kanal war selbst noch ein eisernes Gitter, um eine Flucht mit Schiffen zu verhindern. Zudem war dieses stark beleuchtet. Ich hab versucht es zu untertauchen, aber es ging nicht. Ich bin dann einfach über das eiserne Gitter mit Stacheldraht geklettert. Das erste was ich am Ufer gesehen habe, war ein Schild mit der Aufschrift: „You are leaving the American Sector of Berlin!“ Dann habe ich mich zum nächsten Kontrollsektor geschlichen. Jedes Jahr habe ich diesen Tag mehr als meinen Geburtstag gefeiert.

Erklären Sie bitte, wie Sie es geschafft haben, 33 Menschen zur Flucht zu verhelfen!

Richter: Ich hatte von Anfang den Plan, anderen rauszuhelfen. Ich hatte auch einen Hamburger Reisepass, mit dem ich jederzeit nach Ostberlin hinüber konnte. 1971/72 wurde ein Transitabkommen geschlossen, das den Transitverkehr von zivilen Personen und Gütern zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) regelte. Diese Wege durfte man nicht verlassen und gleichzeitig wurden die Leute auf den Transitwegen nicht kontrolliert. Ich hab einige auf einem Grundstück meiner Eltern in der DDR geholt und hab dafür die Transitwege verlassen, was man eigentlich nicht durfte. Ich hab die Flüchtenden dann in den Kofferraum eingeladen und bin wieder auf die Transitwege zurückgefahren Richtung BRD. (…) Es war mir ein Bedürfnis, das hat mir großen Spaß gemacht, die Leute rauszuholen. Ich habe ja die Motive gekannt. Ich selbst habe dabei mein Leben riskiert. Bei dem Versuch meiner Schwester zur Flucht zu verhelfen, bin ich dann von der Staatssicherheit 1975 geschnappt worden.

Nachdem Sie die Staatssicherheit aufgegriffen hat, sind Sie in Haft gekommen. Beschreiben Sie, welche Foltermethoden die Stasi bei Ihnen angewandt hat.

Richter: Das Schlimmste war die Zeit in Untersuchungshaft und die scheißfreundlichen Vernehmungen. Da hat man dann lang überlegt, was man denen alles erzählt. Die haben das Zuckerbrot-Peitschen-Prinzip angewandt. Die Schließer waren Dumpfbacken, die haben uns dementsprechend behandelt. Die mussten eigentlich verhindern, dass wir aufgrund von Schlafentzug Selbstmord begehen. Deswegen mussten wir schlafen. Natürlich wird aber bei den Kontrollen der Schlaf unterbrochen und manchmal kontrollierten sie mehr als vorgeschrieben. Im Gegensatz dazu standen die Vernehmer, bei denen haben wir uns auch über die Schließer beschwert. Man ist nicht jeden Tag vernommen worden. Die Vernehmungen waren eine Abwechslung. Dabei waren die Zimmer wie ein Wohnzimmer eingerichtet und man bekam Kaffee zu trinken. Die Staatssicherheit hat im Vergleich zu den Foltermethoden der Sowjets unter Stalin, die auch Wasserfolter anwandten, subtiler gefoltert. Nach einem Vierteljahr wusste ich schon, da sie mir die Fluchthilfe von 18 Menschen nachgewiesen hatten, dass ich die Höchststrafe bekommen sollte. Im Strafvollzug wurden wir dann nicht mehr rund um die Uhr überwacht.

Wie viel hat die BRD für Sie bezahlt, sodass Sie aus der Haft entlassen worden sind?

Richter: Hätte ich gern gewusst, denn dann könnte ich das meiner Frau sagen, wie wertvoll ich bin. Der Freikauf durch die BRD begann 1963 mit 40 000 DM pro Kopf und zum Schluss bis zu 100 000 DM. Ich habe nur mitbekommen, dass, wenn mein Name bei den Freikaufverhandlungen fiel, die DDR richtig sauer war. Sie beschwerten sich, dass ich auch noch stolz darauf war, so vielen Menschen zur Flucht verholfen zu haben. Unter den Flüchtenden sind zehn Akademiker gewesen, die die DDR ausgebildet hatte.

Wie und wo haben Sie 1989 die Grenzöffnung erlebt (Anmerkung der Redaktion: Herr Richter befindet sich zu dieser Zeit in der BRD)?

Richter: In meiner Wohnung in der Ackerstraße in Berlin-Wedding. Ich hab die Fernsehberichterstattung mit der Verkündung Schabowskis über die neue Reiseregelung zwischen der BRD und DDR nach der Arbeit gesehen. Ich war zwar erschöpft, hab mir dennoch einen Mantel über meinen Hausanzug angezogen und bin ans Brandenburger Tor gefahren. Da war schon amerikanisches Fernsehen, jedoch tat sich vor Ort noch nichts. Auf dem Heimweg kam ich an einem Grenzübergang vorbei. Dort hörte ich Gegröle, mir entgegen kam ein Trabant in Westberlin. So hab ich damals die Grenzöffnung erlebt. Mir war nach diesem Tag klar, dass die Sache gelaufen ist.

Wir bedanken uns bei der ehemaligen 10d des Martin-Pollich-Gymnasiums für diesen Beitrag.

Zur Person

Hartmut Richter ist in Glindow 1948, in der Nähe von Potsdam, geboren und aufgewachsen. Als Schüler war er ein begeisterter Angehöriger der Jungen Pioniere, der kommunistischen Kinderorganisation der DDR, gewesen. Jedoch hat sich schon zu Jugendzeiten seine Einstellung zum DDR-Regime geändert und er wandelte sich zum Gegner.

Als Fluchthelfer hat er nach seinem geglückten Entkommen aus der Diktatur 1966 33 Menschen aus der Deutschen Demokratischen Republik zur Flucht verholfen. Im März 1975 ist er von der Staatssicherheit bei einer missglückten Aktion, seine Schwester über die Grenze zu bringen, verhaftet und zur Höchststrafe von 15 Jahren verurteilt worden.

Zeitzeugen sind für Schüler die wichtigsten Erkenntnis-Bringer zur innerdeutschen Grenze       -  (nö)   Für die Klasse 10d des Martin-Pollich-Gymnasiums Mellrichstadt war es 25 Jahre nach dem Untergang der DDR-Diktatur kaum mehr vorstellbar, in einem geteilten Deutschland zu leben. Genau die Zeit während des Kalten Krieges stand für die 17 Schüler, insbesondere das Leben an der innerdeutschen Grenze im Grabfeld, während einer Grenzwanderung, die sie im vergangenen Schuljahr unternahmen, im Mittelpunkt. Diese fand im Rahmen eines Geschichtsprojektes statt. Die Schüler berichten Folgendes: „In Zusammenarbeit mit dem Verein zur Aufarbeitung der DDR Geschichte startet die Reise um 8 Uhr in Richtung des Museums für Grenzgänger in Bad Königshofen. Dort erwartet uns Reinhold Albert, ein ehemaliger Grenzpolizist (links). Dieser ist selbst in der Region aufgewachsen und hat die Geschichte der innerdeutschen Grenze von Kindheit an unmittelbar miterlebt. Mit einem Vortrag über die Geschichte und die Vorkommnisse an der Grenze in und um das Grabfeld schafft es der ehemalige Polizist, die volle Aufmerksamkeit der Klasse zu bekommen. Schließlich schauen wir uns die Ausstellung des Museums, die unter anderem speziell auf das Leben mit der Grenze im Grabfeld nach 1945 konzipiert worden ist, an. Es geht weiter an den Grenzgängerweg, ein Rundwanderweg entlang der Grenze, nach Trappstadt. Nach einer kurzen, aber anstrengenden Wanderung erreichen wir in Begleitung von Reinhold Albert ein Stück Zaun der innerdeutschen Grenze zwischen Trappstadt und Schlechtsart. Auch hier hören wieder alle gebannt den Erzählungen des einstigen Grenzpolizisten zu.Danach fahren wir zurück zur Schule. Dort wartet schon Hartmut Richter, ein DDR-Zeitzeuge, auf die Klasse. In einem Zeitzeugeninterview erfahren wir, dass Richter in der Nähe von Potsdam aufgewachsen ist und es geschafft hat, in einer spektakulären Flucht über den Teltow-Kanal, in den Westen zu fliehen.Highlights der Exkursion sind die beiden Zeitzeugen gewesen, die uns das Leben in einem geteilten Deutschland nähergebracht haben. Die innerdeutsche Grenze und die Teilung können wir uns kaum noch vorstellen. Eine der wertvollsten Erfahrungen der Klasse ist es gewesen, dass wir froh sind, dass die Grenze nicht mehr existiert.“
Foto: Martin-Pollich-Gymnasium | (nö) Für die Klasse 10d des Martin-Pollich-Gymnasiums Mellrichstadt war es 25 Jahre nach dem Untergang der DDR-Diktatur kaum mehr vorstellbar, in einem geteilten Deutschland zu leben.
 
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