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Meiningen
Premiere am Meininger Theater: Wenn sich Schneeflocken sanft aufs Elend legen
Verlorene Gestalten im Nachtasyl: die Tramps Olsen (Vivian Frey) und Carl (Yannick Fischer)
Foto: Jochen Quast | Verlorene Gestalten im Nachtasyl: die Tramps Olsen (Vivian Frey) und Carl (Yannick Fischer)
Siggi Seuß
 |  aktualisiert: 23.02.2022 02:25 Uhr

Erster Gedanke: "Absolut stimmig." Schon zu Beginn bringt Frank Behnkes Meininger Inszenierung von Tennessee Williams Jugendwerk "Auf der Flucht" (1937) die gesellschaftskritischen Saiten in den Zuschauern und Zuschauerinnen zum Klingen. Das Publikum in den Kammerspielen hat sich bei dieser deutschen Erstaufführung diesseits und jenseits des Achtbetten-Schlafsaals eines heruntergekommenen Etablissements platziert. St. Louis, Weihnachten 1937, zur Zeit der Weltwirtschaftskrise also.

Armut, Ungerechtigkeit, Verzweiflung liegen in der Luft

Langsam füllt sich der Saal mit den Gestrandeten, während der einsame Tramp Texas (Felix Kruttke, von dem auch die Kompositionen stammen) seiner Gitarre wehmütigen Fingerpicking-Blues entlockt. Armut, Ungerechtigkeit, Verzweiflung liegen in der Luft. So entsteht eine Atmosphäre, in der das desolate Milieu amerikanischer Großstädte in dieser Zeit Gestalt annimmt und man sogar Brücken in die Gegenwart schlagen kann.

Das war wohl ein Hauptmotiv des Regisseurs, das nur in den USA gespielte, verloren gegangene und hierzulande unbekannte Sozialdrama auf die Bühne zu bringen. Und tatsächlich: Behnke und sein Ausstatter Christian Rinke schaffen einen atmosphärisch dichten Spielraum – inklusive nächtlichem Schneetreiben –, der es dem Publikum ermöglicht, die durch Literatur, Theater und Film geprägten Bilder von den Schattenseiten des amerikanischen Traums zu spiegeln. So wie sich die Szenen im Lauf der Jahre ins Gedächtnis eingebrannt haben – Wahrheit und Klischee in einem.

Momentaufnahmen von Hoffnungslosigkeit und Depression

Doch gerade dann, wenn man ins Milieu eintaucht und die Menschen näher kennenlernt, die in dieser Endstation Sehnsucht hausen, fällt einem auf, dass die Protagonisten kaum eine Chance haben, Persönlichkeit zu entwickeln, geschweige denn eine Geschichte zu erzählen. Die Zuschauer können die Gestalten nur im Zustand des Augenblicks wahrnehmen. Das schafft zwar berührende Momentaufnahmen von Hoffnungslosigkeit und Depression, offenbart aber gleichzeitig die Schwäche des Stücks und die Ursache für sein Verschwinden.

Liebe ohne Zukunft: Glory (Carmen Kirschner) und Terry (Stefan Willi Wang)
Foto: Jochen Quast | Liebe ohne Zukunft: Glory (Carmen Kirschner) und Terry (Stefan Willi Wang)

Der 26-jährige Williams probierte sich damals mit nahezu missionarischem Eifer an den Charakteren aus und arbeitete sich – wie das Junge Wilde häufig tun – eher am Schnitzen der Figuren ab und an den Mühen, ihnen die richtigen Worte in den Mund zu legen (deutsche Übersetzung von Thomas Huber). So sehr sich die Schauspieler in ihre Rollen hineinfühlen: Die Hauptfiguren wirken in ihrem Wechselspiel von Zurückhaltung und emotionalen Ausbrüchen wie in einer Art proklamatorischer Gefühlswallung. Als habe ihnen der Autor ihren Charakter auf den Leib geschrieben und nicht in die Seele gepflanzt.

Randfiguren haben klarere Konturen als die Protagonisten

So bleibt der Betreiber der Herberge, Mr. Gwendlebaum (Gunnar Blume), gefangen zwischen Fürsorge, Autorität und knallhartem Geschäftsgebaren, mit denen er die Zukunft seiner Kinder sichern will. Die Coming-of-Age-Geschichte der Halbgeschwister Leo (Jan Wenglarz) – unverkennbar Williams Alter ego - und Glory (Carmen Kirschner) steht zwar im Mittelpunkt des Geschehens, schlittert jedoch auf der Oberfläche der Stereotype entlang. Der poetische und politische Rebell Leo möchte der Not durch Bildung, politischem Kampf und Kunst entrinnen. Glorys Sehnsucht nach Liebe und Flucht versteckt sich zuerst hinter einer Aura der Unnahbarkeit, bis der gesuchte Gangster Terry (Stefan Willi Wang) auftaucht und Glory umgarnt – eine Gestalt, die aus Al Capones Chicago stammen könnte.

Gibt es eine Zukunft für Gwendlebaums Kinder? Glory (Carmen Kirschner) und Leo (Jan Wenglarz) am Boden zerstört.
Foto: Jochen Quast | Gibt es eine Zukunft für Gwendlebaums Kinder? Glory (Carmen Kirschner) und Leo (Jan Wenglarz) am Boden zerstört.

Die Randfiguren gewinnen deshalb klarere Konturen als die Protagonisten, weil sie keine Geschichte erzählen müssen. Sie wirken ausschließlich durch ihre Existenz im Augenblick, wie etwa das liebenswerte Faktotum Chuck (Matthias Herold), der Pyromane Abel (Michael Jeske), der lungenkranke Olsen (Vivian Frey) oder sein fürsorglicher Mittramper Carl (Yannick Fischer).

Am Ende des Abends, wenn die letzten Schneeflocken aus dem Theaterhimmel gefallen sind und sich über das Leid der Menschen dort unten zwischen den Häuserschluchten von St. Louis gelegt haben, bleibt man etwas ratlos auf den Rängen sitzen und lässt zu Texas' wehmütigem Gitarrenspiel seine Mixed Emotions davonwehen. "Nobody knows why".

Nächste Vorstellungen: 20. Februar, 19., 26. und 31. März. Kartentelefon: 03693-451222. www.staatstheater-meiningen.de

Noch tanzen sie über den Wolken, Glory (Carmen Kirschner) und der Gangster Terry (Stefan Willi Wang), während sich der einsame Musiker Texas (Felix Kruttke) der Melancholie hingibt.
Foto: Jochen Quast | Noch tanzen sie über den Wolken, Glory (Carmen Kirschner) und der Gangster Terry (Stefan Willi Wang), während sich der einsame Musiker Texas (Felix Kruttke) der Melancholie hingibt.
 
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