
Christiane Müller begann mit einer nachdenklichen Bitte: "Lassen Sie sich darauf ein, die historische Begebenheit aus der Zeit heraus zu sehen, und nicht vom Ende her. Der tragische Selbstmord von Walter Benjamin auf der Flucht aus Nazideutschland ist nicht der einzige Bezug zur Shoah. Alle Beteiligten unserer Geschichte sind mehr oder weniger Opfer. Eine schwere Aufgabe, die Personen des Jahres 1921 nicht auf die spätere Opferrolle zu reduzieren. Wir wollen aber den Mördern nicht die Macht überlassen, sondern die Menschen, deren Lebenslinien sich hier kreuzten, zeigen wie sie 1921 waren. Durch diese Kraftanstrengung kann letztlich der unwiederbringliche Verlust an Kultur und Menschlichkeit durch den späteren Zivilisationsbruch besser verstanden werden."
Der Germanist Stefan Kritzer referierte über jene Tage im September, als die noch unbekannten Philosophen Gershom Scholem und Walter Benjamin in die Rhön reisten. Neben einem Freundschaftsbesuch beim Malerehepaar Helene und Max Holzman, war es Walter Benjamins Ziel seinen ehemaligen Dozenten Ernst Lewy für ein Zeitschriftenprojekt zu gewinnen. Prof. Lewy wohnte seit ein paar Jahren in der Propstei und verfasste hier mehrere sprachwissenschaftliche Arbeiten. Nach einer Zeichnung von Paul Klee sollte die Zeitschrift "Angelus Novus" heißen.
Kritzer spann kenntnisreich und kurzweilig ein Gespinst aus Informationen über Lebensläufe, Ereignisse und Zeitgeschehen zu einem Gesamtbild. Von Paul Klees 50 Engelsbildern, über Gershom Scholems kabbalistischen Studien bis zum Essay Benjamins über "Die Kunst in der Zeit der Reproduzierbarkeit". Einzelinformationen verwoben sich mit den Lebensleistungen von Scholem, Benjamin, Lewy und Holzmans zu einem Gefühl wie stark die Diskussion damals in Wechterswinkel gewesen sein könnte. Kurz nach Ende des Weltkrieges fanden sich junge Intellektuelle zum sprichwörtlichen Gespräch über Gott und die Welt.
Auch 2024er-Gästen fühlten sich inspiriert: "Heute hat jeder etwas zu Denken bekommen; einen Impuls oder eine Neuigkeit. Und sei es, dass Hedwig Lewy, Helene Holzman und Frau Hauck schwanger waren im September 1921. Hoffnungsvolle Nachkriegskinder, aus denen Vorkiegskinder wurden."
Von: Klaus Dippel (Gesellschafter, Propstei Wechterswinkel)