Stundenlang im Hörsaal oder zu Hause am heimischen Schreibtisch sitzen, das würde einfach nicht ins Naturell des gebürtigen Bad Neustädters Max Kortmann passen. Immer wieder packt ihn die Abenteuerlust. Als Skilehrer erlebte er im Januar 2019 unfreiwillig die teilweise meterhohen Schneemassen im österreichischen Skigebiet Schröcken in Vorarlberg hautnah mit. In diesem Frühjahr will er sich im Rahmen seines Masterstudium Ökologie und Biodiversität an der Universität Innsbruck freiwillig in ein neues Abenteuer stürzen - eine Expedition in die Arktis.
Für seine Abschlussarbeit will Kortmann von Mai bis Juli dieses Jahres um die Arktis segeln und die Folgen des Klimawandels erforschen - Schwerpunkt aber ist Mikroplastik. "Ich wollte etwas Spannendes machen. Meine Professorin war bereits mehrere Saisons in der Arktis und war von der Idee begeistert", erzählt er über die Anfänge.
Reisepläne haben sich ausgeweitet
Dass sich die ursprünglichen Reise- und Forschungspläne letztlich auf eine mehrmonatige Expedition ausgeweitet haben, liegt an Dario Schwörer. Auf der Suche nach Fördermitteln lernte Max Kortmann den Schweizer Bergführer und Klimatologen kennen, der im Rahmen seiner Stiftung bereits seit rund 20 Jahren klimaneutral mit seinem eigenen Segelboot um die Welt reist, um auf das Thema Klimawandel aufmerksam zu machen. Schwörer bot Kortmann und seinem Jungforscher-Kollegen Sebastian Pohl an, ihm auf sein Segelboot zu folgen und gemeinsam die "TOPtoTOP Arctic Research Expedition 2021" zu starten.
Statt mithilfe eines Flugzeuges oder Dieselmotors soll das Abenteuer, einmal im Kreis um die Arktis zu segeln, im Mai mit einer Zugfahrt nach Norwegen beginnen. Es folgt eine zehntägige Quarantäne, ehe die Forscher zur Insel Spitzbergen, dem 2277 Meter hohen Beerenberg-Vulkan auf Jan Mayen, nach Grönland, nach Island und zum Abschluss nach Irland zu einer Jugendsegelmeisterschaft segeln wollen.
Bislang wenige Mikroplastik-Studien in der Arktis
Was ist Sinn und Zweck dieser Reise, die alles sein wird, aber kein Urlaubsvergnügen und keine graue Theorie? Diese Frage wird Max Kortmann häufiger gestellt. Ihn reizt bei diesem Forschungsprojekt allem voran die Tatsache, dass es bislang nur sehr wenige Studien über Mikroplastik in der als unberührt geltenden Arktis gibt und allgemein noch keine standardisierten Maßnahmen in der Forschung.
Die Verschmutzung durch Mikroplastik stellt neben der Klimaerwärmung die größte Problematik im Komplex Klimawandel dar. "Plastik ist praktisch, ohne Plastik wäre unsere Gesellschaft eine andere. Das Problem: Plastik baut sich nicht wirklich gut ab, das dauert im besten Fall ein paar Jahrhunderte und zerfällt so lange in immer kleinere Teile", erläutert Kortmann.
Aufnahme von fünf Gramm Mikroplastik pro Woche
Er verweist in diesem Zusammenhang auf eine Studie aus dem Jahr 2019 von Forschern der australischen Universität Newcastle, die im Auftrag der Umweltschutzorganisation WWF Umweltstiftung durchgeführt wurde. Demnach fanden die Forscher heraus, dass ein Mensch pro Woche beispielsweise über die Nahrung oder die bloße Atmung bis zu fünf Gramm Mikroplastik aufnimmt - das entspricht in etwa dem Gewicht einer Kreditkarte.
In Europa könne man laut Max Kortmann schlecht eine Aussage darüber treffen, wie weit die Partikel geflogen sein könnten. Das ist in der Arktis anders. "Wenn wir auf dem Vulkan mitten im arktischen Ozean, mitten im Niemandsland Plastik finden sollten, dann kann das nicht von dort stammen. Dort schmeißt keiner Kaugummipapier auf den Vulkan. Dann ist die Frage: Wie kommt das Plastik dort hin?", so der 29-Jährige.
Mit den erhobenen Daten sollen auch Vergleiche gezogen werden, inwieweit sich das Plastik-Vorkommen beispielsweise in der Nähe des Hauptortes von Spitzbergen im Vergleich zu unbemannten Forschungsstationen unterscheidet. Bislang gebe es laut Kortmann noch keine klaren Aussagen, wie viele Kilometer weit die kleinsten Partikel durch die Atmosphäre fliegen können.
Er vergleicht den möglichen weiten Verbreitungsweg von Mikroplastik mit dem Phänomen des Saharastaubs, welches in den vergangenen Jahren auch hierzulande immer häufiger aufgetreten ist und beispielsweise für verschmutze Motorhauben und Terrassen gesorgt hat. "Wenn Saharastaub überall hinfliegen kann, dann auch Mikroplastik", ist sich Kortmann sicher.
"Air Sampler" für Luftproben im Einsatz
Aber wie wollen er und seine Forschungskollegen die Daten über das Vorkommen von Mikroplastik in der Arktis sammeln? Zum einen über die Luft - mit dem sogenannten "Air Sampler". Das komplexe Gerät in der Größe eines 40-Liter-Rucksacks misst Kleinstpartikel in der Atmosphäre. An vorher willkürlich ausgewählten Stellen wird das Gerät dann alle 400 Höhenmeter aufgestellt. Außerdem werden Eis- und Wasserproben entnommen. Wichtig sei laut des Masterstudenten, dass dabei keine Hilfsmittel aus Plastik verwendet werden, die selbst wiederum für Mikroplastik sorgen und die Daten verfälschen würden.
In einem zweiten Forschungsprojekt auf dieser der Expedition sollen links und rechts vom Boot angebrachte feine Fangnetze beim Segeln durch das Meer Kleinstpartikel und mögliche größere Teile, die an der Oberfläche schwimmen, sammeln. Da jeder Mensch und jedes Lebewesen Fragmente seiner eigenen DNA in die Umwelt abgibt, soll in Kombination mit einer weiteren, modernen wissenschaftlichen Methode festgestellt werden, wie viele verschiedene Fischarten beispielsweise in diesem Bereich noch heimisch sind und welche Auswirkungen Mikroplastik auf die verschiedenen Meeresbewohner hat.
Mögliche dramatische Folgen für Kleinstlebewesen
"Das unglaubliche kleine und oft bunte Plastik wird von Kleinstlebewesen gegessen, die denken, es sei Nahrung. Der Körperbau der Tiere könnte sich verändern, Mutationen entstehen oder sie sterben direkt", führt Max Kortmann die möglichen dramatischen Folgen für die Tierwelt auf. Wenn die kleinen Tiere dann von größeren gefressen werden, setzen sich die Probleme fort.
Mikroplastik kann aber auch bereits direkte Auswirkungen auf den Menschen haben. So sei laut des 29-Jährigen das Plastik bereits in der Plazenta von Frauen nachgewiesen worden. Auch für Viren könnte Mikroplastik ein Nährboden sein. "Plastik ist bereits jetzt schon der Lebensraum von Organismen, die sich daran angepasst haben. Viren können an Mikroplastik sehr gut haften, darauf überleben und damit eventuell tausende von Kilometer weit reisen", spricht Max Kortmann von einem möglichen, weltweiten Problem in der Zukunft.
Fotos und Videos: Expedition soll erlebbar gemacht werden
Dies und andere Probleme sowie die Konsequenzen daraus wollen die Crewmitglieder mit Dario Schwörer an der Spitze auf dem Segelboot aber nicht für sich behalten, im Gegenteil. Mit Fotos und Videos im Internet und auf Social-Media-Kanälen möchten Kortmann und Co. so unmittelbar wie möglich von ihrer Expedition berichten und ihre Erlebnisse schildern. "Wir wollen Geschichten erzählen und die Leute damit abholen. Zehn Seiten nüchterne wissenschaftliche Ergebnisse bringen wenig, das lesen sich nur wenige durch", weiß Max Kortmann, der nach seiner Reise gerne auch Schülern aus Rhön-Grabfeld von seinen Erlebnissen erzählen würde.
Bei jeder Station wollen die Forscher zudem an Land gehen und so Wissenschaft mit Bildungsarbeit verbinden. Das Segelboot sei daher ein "cooles Erzählmittel", um die Menschen vor Ort, die bereits vom Klimawandel betroffen sind, noch stärker aufzuklären. Der Schwerpunkt liege auf der jüngeren Generation. Der Planet funktioniere, so Kortmann, nur als Gesamtsystem und man könne nicht beliebig viele Einzelsysteme aus diesem Gesamtkonstrukt reißen. Man müsse sich deshalb auch fragen, ob man eigene Verhaltensweisen ändert, ohne an Komfort einzubüßen.
Viel Vorbereitungsarbeit nötig
Bis der Bad Neustädter und seine Kollegen die Reise planmäßig Ende Mai antreten, steht noch einiges an Vorbereitungsarbeit an, und das teilweise täglich bis in die Nacht hinein. Literaturrecherche über den aktuellen wissenschaftlichen Stand, die Einholung von Forschungserlaubnissen, das Vertrautmachen mit den technischen Geräten oder ein Gletschertraining in Österreich. "Man muss wissen, wie man über einen Gletscher läuft und wissen, was man tut. Das wird richtig alpinistisch. Im Niemandsland ist kein Empfang, da kommt kein Helikopter", so Max Kortmann, dem man die Vorfreude auf das große Abenteuer in jedem Wort anhört.
Angst? Habe er nicht. Vielmehr riesige Vorfreude, aber auch Respekt, er sei schließlich noch nie gesegelt und wisse nicht, wie sein Körper reagieren könnte. Und dann gäbe es mitten auf dem arktischen Ozean schließlich auch noch die Möglichkeit von unwägbarem Wetter - beispielsweise ein Sturm.
Reise noch nicht vollständig finanziert
Neben der weiteren Unwägbarkeit Corona-Pandemie beschäftigt Max Kortmann und seinen Kollegen momentan auch noch die äußerst wichtige Frage, ob die Reise überhaupt vollständig finanziert werden kann. Jeweils 7500 Euro kostet die beiden eine Teilnahme an der Expedition. Einen Teil der Summe haben sie nach einer aufwendigen Fördergebersuche bereits aufgetrieben, aber noch nicht alles. "Dadurch, dass sich unser Projekt oft gewandelt hat, war die Vorlaufzeit bei größeren Stiftungen zu kurz", erklärt Kortmann die Krux. Auch deshalb hat er vor kurzem eine Crowdfunding-Aktion ins Leben gerufen und hofft auf diesem Wege auf weitere Unterstützer.
Alternativ würde sich die Forschung ausschließlich in Spitzbergen oder in Österreich abspielen, wenn die Corona-Krise keine Reise zulassen sollte. Diese Gedanken schiebt der Bad Neustädter aber aktuell weit von sich, er hätte angesichts der noch anstehenden Vorbereitungen auch nur wenig Zeit dafür. Falls die geplante Expedition so stattfinden sollte, wie geplant, dann macht er für die anschließende Datenauswertung gerne das, was sonst nicht seinem Naturell entspricht - "einfach" nur am Schreibtisch sitzen.
Weitere Informationen zur Expedition und Spendenmöglichkeit
toptotop.org/2021/03/16/toptotop-arctic-research-expedition-2021 oder per E-Mail an Max Kortmann direkt (max@toptotop.org). Gespendet werden kann über die Crowdfunding-Plattform "Donorbox" unter donorbox.org/toptotop-arctic-research-expedition-2021. Da es sich bei "TOPtoTOP" um eine Schweizer Organisation handelt, ist die Währung in Schweizer Franken (CHF) angegeben und wird dann in Euro umgerechnet. Dabei entstehen für den Spender jedoch keine zusätzlichen Gebühren. Auf Wunsch können Spendenquittungen ausgestellt werden.