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Meiningen
Meininger Kammerspiele: Hanni, Nanni und der Pflegenotstand in Altenheimen
Letzter Hauch oder erfrischende Brise? Die allegorische Figur der Luft (Christine Zart) taucht immer wieder im Heim auf - gerade in Zeiten der Pandemie
Foto: Christina Iberl | Letzter Hauch oder erfrischende Brise? Die allegorische Figur der Luft (Christine Zart) taucht immer wieder im Heim auf - gerade in Zeiten der Pandemie
Siggi Seuß
 |  aktualisiert: 27.04.2023 15:23 Uhr

Überfordertes Personal, schlechte Entlohnung, kaum Zeit für persönliche Zuwendung, Tragödien während der Pandemie: Der Pflegenotstand in Altenheimen liefert Stoff für ungezählte Dispute und Sonntagsreden. Und nun auch für ein Theaterstück, das in den Meininger Kammerspielen uraufgeführt wurde: "Alte Sorgen" von Maria Milisavljević (41), vielfach preisgekrönte, in Berlin lebende Autorin und Dramaturgin.

Im Reich zwischen Wirklichkeit und Tod lässt es sich gut leben: (v.l.) Emma Suthe, Carmen Kirschner, Gunnar Blume, Renatus Scheibe, Evelyn Fuchs, Miriam Haltmeier (vorne)
Foto: Christina Iberl | Im Reich zwischen Wirklichkeit und Tod lässt es sich gut leben: (v.l.) Emma Suthe, Carmen Kirschner, Gunnar Blume, Renatus Scheibe, Evelyn Fuchs, Miriam Haltmeier (vorne)

Das Bühnenbild öffnet den Horizont

Dabei geschieht etwas Wundersames. Man kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, wenn man das reale Trauerspiel aus den Blinkwinkeln der Autorin, der Regisseurin Anna Stiepani und der Ausstatterin Thurid Peine betrachtet.

Allein das Bühnenbild öffnet den Horizont weit über die blanke Wirklichkeit hinaus. Der Bühnenboden ist mit weißer Bettwäsche überzogen, als befände man sich auf Wolke Sieben. Dahinter ragt eine gläserne Trennwand in die Höhe, mit der sich bei Bedarf ein Paralleluniversum aus lichtdurchflutetem Friedhofsidyll und romantischer Meininger Parklandschaft eröffnet.

Tragische Geschichte

Zwar betont die Autorin immer wieder die Nähe ihrer Hauptfigur, Pflegerin Kathrin (Evelyn Fuchs), zu Georg Büchners geknechtetem und verlorenem Menschen Woyzeck, doch für das Publium ist das weit weniger bedeutsam als das Kunststück, das Milisavljević in ihrem Stück vollbringt: Über die tragische Geschichte eine Atmosphäre federleichter Poesie zu legen.

Auf der einen Seite zieht das mehrfach ausgebeutete Leben der Protagonistin vorüber. Auf der anderen Seite trösten die ironischen Brechungen, das Hinübergleiten der Gedanken in allegorische Bilder (Luft, Nebel, Schatten, ätherische Wesen, ja sogar ein Bett, das spricht). Sie werden zu greifbarer Fantasie wie Figuren des absurden Theaters.

Mangel an Zeit und Zuwendung

Die alleinerziehende Mutter einer erwachsenen Tochter ist ein berufserfahrene, mitfühlende Frau, deren Kindheit bereits alles andere als rosig war. Kathrins Tochter (Miriam Haltmeier) arbeitet in einem Schweinemastbetrieb.

Die Mutter-Tochter-Beziehung leidet unter einem Mangel an Zeit und gegenseitiger Zuwendung. Die fürsorgliche Pflege der alten Menschen wurde Kathrin so zur Lebensaufgabe, dass sie sich fortwährend selbst ausbeutet und gleichzeitig unter Druck steht, den minutiös getakteten Pflegeplan zu erfüllen.

Die alte Frau Weber (Gunnar Blume) erinnert sich. Kathrin (Evelyn Fuchs) positioniert derweil das Krankenbett.
Foto: Christina Iberl | Die alte Frau Weber (Gunnar Blume) erinnert sich. Kathrin (Evelyn Fuchs) positioniert derweil das Krankenbett.

Szenen von großer Eindringlichkeit

Das Geschehen im Heim fokussiert die Autorin auf den Umgang der Pflegerin mit der rigide fordernden Oberschwester (Christine Zart) und zwei Heimbewohnern, dem unberechenbar aggressiven "Major" (Renatus Scheibe) und einer sterbenskranken alten Frau (Gunnar Blume).

In dieser realen Sphäre entstehen Szenen von großer Eindringlichkeit, vor allem in den Monologen der Beteiligten. Sobald die Menschen jedoch miteinander sprechen, spürt man das Fragmentarische, das künstlich auf einen Nenner Gebrachte an Informationen, vor allem im Dialog von Mutter und Tochter. Was gesagt wird, ist zwar glaubwürdig, aber nicht das Wie. Da haben Autorin und Regisseurin zu viele Botschaften in zu kurze Sequenzen gesteckt. Weniger wäre hier mehr gewesen.

Allegorisches Zwischenreich

Doch darüber sieht man gerne hinweg, wenn die Szenen ins Fantastische hinübergleiten, zum lichtüberfluteten Friedhof etwa, den Kathrin immer wieder heimsucht, um der Toten zu gedenken. Dort trifft sie, ohne es bewusst wahrzunehmen, auf zwei verstorbene Heimbewohnerinnen, die in ihren Jungmädchenkörpern als Hanni und Nanni (Carmen Kirschner und Emma Suthe) das reale Elend mit Naivität und spielerischer Freude konterkarieren. Selbst ein Schwein darf sich dort mit Wonne tummeln.

Dem allegorischen Zwischenreich, dem sich die nach einem Angriff des Majors bewusstlose Pflegerin erneut nähert, diesem Traumraum voller Poesie ist es zu verdanken, dass Kathrin am Ende ein Licht aufgeht, das Woyzeck versagt blieb.

Man kann darüber schmunzeln, wie Geschichtenerfinder die Wirklichkeit verzaubern. Wenn dabei aber solche Erkenntnis fördernde Wesen wie Hanni und Nanni erscheinen, drückt man gerne ein Auge zu. Es ist allemal hoffnungsvoller, wenn Kathrin ihr Leben in den Griff kriegt, und nicht, im Elend versunken, als literarische Figur endet.

Nächste Vorstellungen: 24. Februar, 4. und 17. März, jeweils 19:30 Uhr. Theaterkasse: 03693-451 222. www.staatstheater-meiningen.de

 
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