Maya Hahn ist 15, lebt mit ihren Eltern und den beiden Geschwistern im 1100-Seelen-Ort Oberelsbach in der Rhön. Und steckt in der Pubertät. Andere Mädchen in ihrem Alter durchleben gerade die heißeste Phase des Erwachsenwerdens. Sie verändern sich körperlich, haben mit Stimmungsschwankungen und Selbstzweifeln zu kämpfen, sind das erste Mal verliebt und nabeln sich vom Elternhaus ab. Eine Herausforderung für alle Familienmitglieder. Und ganz normal.
Mayas Leben und das ihrer Familie verlief bisher aber alles andere als normal. Die 15-jährige leidet seit ihrer Geburt unter einem schweren Gen-Defekt: dem "Marshall-Smith-Syndrom" (MSS). Eine seltene Krankheit, die in Deutschland bisher nur vier Mal diagnostiziert wurde, weltweit zwischen 30 und 50 Mal. Laut Definition der Europäischen Union spricht man von einer seltenen Krankheit, wenn im Durchschnitt nicht mehr als fünf Personen pro 10.000 Einwohner betroffen sind. MSS liegt ein Zig-Tausendfaches unter dieser Quote.
Etwas überraschend, mitten im Studium der Wirtschaftspädagogik in Nürnberg, sei sie damals schwanger geworden, berichtet Mayas Mutter. Die Schwangerschaft sei völlig unkompliziert verlaufen. „Zu keinem Zeitpunkt gab es einen Verdacht, dass etwas nicht stimmt“, blicken Pamela und André Hahn zurück. Drei Wochen vor dem Geburtstermin dann schon der Blasensprung. Pamela Hahn war gerade zufällig bei ihren Eltern in der Rhön.
Im Klinikum Meiningen erlebten die werdenden Eltern dann eine lange, aufregende, etwas dramatische Geburt. Letztlich sei die Saugglocke zum Einsatz gekommen. Nicht unüblich. Doch Maya atmete nicht. Das Neugeborene wurde von der Kinderärztin sofort intubiert und beatmet und noch am selben Tag in die Kinderintensivstation nach Suhl verlegt. Die Mutter kam einen Tag später nach. „Sie hat noch Anpassungsstörungen“, hieß es damals, als es mit Mayas Atmung immer noch nicht klappen wollte.
Zwei Wochen nach der Geburt wurde Maya bei äußerst windigem Wetter mit dem Hubschrauber in die HNO-Spezialklinik nach Erlangen geflogen. Das erste Ergebnis dort: „Ihr Kind hat große Probleme.“ Langsam wurde klar, dass es sich bei dem Krankheitsbild um eine Art Syndrom handeln musste. Doch nichts, erzählen die Eltern, habe hundertprozentig gepasst. Die Atemproblematik war geblieben. Immer wieder schnürte sich der Rachenraum von Maya zu. Um das Kind ernähren zu können, bekam es eine Magensonde. Nach Hause hätte Maya nur mit einem Tracheostoma, einem Luftröhrenschnitt, gedurft. Eine Horrorvorstellung für die Eltern.
Eine Logopädin gab der Familie dann einen wertvollen Tipp: An der Uniklinik in Tübingen werde die „Tübinger Platte“ hergestellt und angepasst. Eine Art lose Zahnspange, die den Rachenraum durch eine Art Dorn im hinteren Mundbereich offenhält. Die Anpassung der Tübinger Platte sei ein schwieriges Unterfangen gewesen, erzählen die Hahns. Denn die vielen Plattenabdrücke mussten mittels Endoskopie im Wachzustand gefertigt werden. Eine enorme Belastung für das Kind. Nach drei Wochen aber hatten die Ärzte die passende Form gefunden. Mit der Gewissheit, dass sie bei einem Kleinkind wegen des Wachstums alle paar Monate neu angepasst werden muss.
Genau acht Monate nach der Geburt, am 1. Mai 2005, konnte Maya zum ersten Mal das Krankenhaus verlassen. Bis dahin war kein Tag vergangen, an dem Pamela Hahn in der Klinik nicht an der Seite ihrer Tochter war. Schon fünf Tage später aber: Lungenentzündung! Maya musste erneut für zehn Tage "einrücken". Etliche Krankenhaus-Aufenthalte sollten noch folgen, zuletzt vor wenigen Jahren wegen einer Wirbelsäulenversteifung.
Bei der Behandlung einer der vielen Lungenentzündungen von Maya im Herbst 2006 stieß ein Neurologe in Tübingen bei einem Gehirn-MRT zufällig auf das seltene Marshall-Smith-Syndrom. Er recherchierte und brachte seine Erkenntnisse mit dem Wissen eines Humangenetikers zusammen. Die klinischen Symptome passten. Die höchst seltene Krankheit gab es in Deutschland zum damaligen Zeitpunkt kein zweites Mal. „Zwar hatten wir die Diagnose, geholfen hat uns das aber nichts“, sagen Pamela und André Hahn. Ohne Vergleichsfälle gibt es auch keine erprobten Therapie- und Behandlungsmöglichkeiten. „Die Krankheit war viel zu selten.“ Und in der damals einzigen Fachliteratur zu MSS aus den 1970er Jahren hieß es, dass Kinder mit diesem Gendefekt maximal zwei bis drei Jahre alt würden. Der nächste große Schock für die Eltern - Maya war damals zwei Jahre alt.
Im Frühjahr 2009 lernte Maya in einer Spezialklinik in Graz das Essen, um sich von der Sonde zu entwöhnen. Von 18 Kilogramm sank ihr Körpergewicht auf knapp 13 Kilo. Hatte sie vorher wenigstens am Rollator laufen können, ging das nicht mehr. Monatelang aß das Mädchen nur Hipp-Pfirsich-Gläschen. „Wir haben damals den ganzen Landkreis leergekauft“, schmunzeln die Eltern.
Zu dieser Zeit stießen sie zufällig auf eine Elternvereinigung zum Marshall-Smith-Syndrom in den Niederlanden. Sie nahmen Kontakt mit den Mitgliedern der Elterninitiative auf – und verstanden sich auf Anhieb. Die Hahns brachten den deutschen Humangenetiker Dr. Martin Zenker mit dem niederländischen Arzt Professor Dr. Raoul Hennekam zusammen. Den beiden Fachleuten gelang es daraufhin, einen Gen-Test für das MSS-Syndrom zu entwickeln. Seit 2010 kann die Erkrankung nun pränatal bei einer speziellen Fruchtwasseruntersuchung nachgewiesen werden. Nach und nach seien mittlerweile über 30 MSS-Fälle in aller Welt eindeutig genetisch diagnostiziert worden, berichten die Hahns. In Deutschland sind es vier.
Gefährdeten werdenden Eltern kann der Gen-Test Gewissheit geben. André und Pamela Hahn war diese Gewissheit bei der Entscheidung für ein zweites Kind gut zwei Jahre nach der Geburt von Maya noch nicht gegönnt. „Natürlich macht man sich Gedanken“, blickt das Ehepaar zurück. Umso näher die Geburt rücke, umso mehr Angst habe man. „Aber wir haben uns gedacht, unser Leben hat sich ohnehin schon komplett verändert. Wenn es nun so wäre, dann ist es ebenso“, sagt André Hahn. „Da hat nur Gottvertrauen geholfen“, sagt seine Frau Pamela. Umso größer die Freude, als der kleine Louis einige Sekunden nach der Geburt das Schreien anfing. „Uns fiel ein Stein vom Herzen.“
An ihrem Wohnort Nürnberg hatte die Familie mittlerweile ein Netz von Therapeuten, Ärzten und Pflegedienst aufgebaut. Beim Vorhaben, wieder zurück aufs Land nach Oberelsbach zu ziehen, musste viel organisiert werden. „Wir haben aber festgestellt, dass auch unsere ländliche Region adäquat aufgestellt ist“. Die Hahns bauten ein Eigenheim mit Aufzug und breiten Türen auf einem ebenen Grundstück zentral im Ort. Und im Jahr 2013 kam das zweite Brüderchen, Malte, auf die Welt.
„Unser Ziel war es, das Leben von Maya und ihren Geschwistern so normal wie möglich zu gestalten“, sagen die Eltern. Wie selbstverständlich ging Maya begleitete vom Pflegedienst in den Oberelsbacher Kindergarten. Eine Erfahrung, die auch für den Kindergarten selbst und die gleichaltrigen Kinder wertvoll gewesen sei: „Maya kennt hier jeder und sie gehört zu Oberelsbach mit dazu“, sagen die Eltern stolz. „In den ganzen 15 Jahren ihres bisherigen Lebens wurde Maya nie schlecht behandelt oder ausgegrenzt aufgrund ihrer Behinderung.“ Bei mittlerweile zwei großen Benefizveranstaltungen, die die Hahns zu Gunsten der MSS Foundation veranstalteten, war das ganze Dorf auf den Beinen und half mit.
Dass der Alltag so gut funktioniert, sei auch den Großeltern zu verdanken, die in Oberelsbach und Bastheim wohnen und die junge Familie, wann immer Hilfe benötigt wird, tatkräftig unterstützen. Maya geht mittlerweile in die achte Klasse der Herbert-Meder-Schule in Willmars. Hier gefällt es ihr sehr gut. Beim Schulträger, der Lebenshilfe Rhön-Grabfeld, ist André Hahn mittlerweile als zweiter Vorsitzender ehrenamtlich engagiert.
Wenn sich die Familie noch etwas wünschen könnte, dann wäre das etwas mehr Flexibilität und Kooperation auf Seiten der staatlichen Behörden, die über Hilfeanträge zu entscheiden haben. Das Unterstützungsangebot sei gerade in Bayern nicht unbedingt groß und teilweise starr und kompliziert: „Es kostet Zeit und Nerven, wenn man auf Hilfe angewiesen ist."
Ihr Endgewicht von 35 Kilo und ihre Endkörpergröße mit 1,40 Metern hat Maya mittlerweile erreicht. Sie geht am Rollator und freut sich über die Zuneigung ihrer Mitmenschen. Im Alter zwischen 20 und 30 soll Maya dann wie andere in ihrem Alter von zu Hause ausziehen, wünschen sich die Eltern: „Wir werden uns auf die Suche nach einer passenden Einrichtung begeben.“
Gerade mache Maya eine sehr schwierige Zeit durch: „Sie steckt mitten in der Pubertät.“ Vom Kopf her sei ihre Tochter nun ein stark pubertierendes 15-jähriges Mädchen "mit extrem ausgeprägtem Freiheitsdrang“, erzählen die Eltern. „Und das gepaart mit eingeschränktem Verständnis und Mobilität." Für die ganze Familie sei das mit Konflikten verbunden. Maya bekomme Schreianfälle, kann sich aber nicht äußern, warum sie schreit.
Auch Louis, ihrem zwölfjährigen Bruder, der eine sehr enge Beziehung zu seiner Schwester hat, geht das emotional sehr nahe. „Er ist der jüngere große Bruder“, sagt Mama Pamela. Eine Rolle, in die er irgendwie hineingewachsen sei. Die Pubertät von Maya sei eben für alle Familienmitglieder eine Herausforderung. So wie in anderen Familien auch.
Maya hat wohl genau das Umfeld gefunden das ihr zusteht, ein freundliches.