Im Bewusstsein der Europäer, zumal der Deutschen, ist Kanada ein interessantes Land. Dieses Interesse klammert sich aber oft an Stereotype und Klischees wie „Winter in Kanada“ und „Wir gehen dort auf Bärenjagd“ von der Casetta in Kanada aus, was gewisse Schlager verbreitet hatten. Es ist verknüpft mit der Vorstellung von einem endlos weiten, waldreichen und unberührten Land, und mancher hat vor seinem geistigen Auge vielleicht auch die schmucke Royal Canadian Mounted Police mit ihren roten Uniformen und den auffälligen Pfadfinderhüten. Solche Stereotype werden natürlich nie einem Land gerecht, schon gar nicht dem Land, das von den Großen Seen Nordamerikas bis fast hinauf an den Nordpol reicht.
Einen viel zuverlässigeren Einblick in das Land erlaubt seine Literatur. Und da hat Kanada Einiges und Erstaunliches vorzuweisen. Nicht nur, dass das Land jetzt erstmals mit Alice Munro eine Literatur-Nobelpreis-Trägerin hervorgebracht hat. Es gibt in diesem anglo- wie auch frankophonen Land eine ganze Reihe bemerkenswerter Autoren.
Schiffbruch mit Tiger
Einige wenige davon konnten die drei Vorleser bei der jüngsten Ausgabe von „Mellrichstadt liest“ ihrem Publikum präsentieren: Yann Martel, Thomas King, Alice Munro und Stephen Leacock. Die Vorleser waren David Henkes als Gastleser sowie Peggy Geßner und Fred Rautenberg, die auch durch das Programm moderierten.
Geßner machten den Auftakt mit dem kurios-humorvollen, aber auch mit einem religiösen Touch versehenen „Life of Pi“ von Yann Martel, bekannt geworden unter dem deutschen Titel „Schiffbruch mit Tiger“, der auch verfilmt wurde. Diesen Titel trägt es zu Recht, denn der Icherzähler, eben dieser Herr Pi, sieht sich nach einem Schiffbruch seiner ganzen, nach Kanada zu transportierenden Zootiere beraubt. Nur Pi, ein Zebra, ein Orang-Utan, eine Hyäne und ein Tiger können in einem Rettungsboot dem Untergang ihres Schiffes entkommen.
Mit dem ersten der zwei von David Henkes ausgesuchten Texte kehrte der Vorleser direkt nach Kanada zurück, genauer in eine Kleinstadt, die denselben Namen wie der Fluss trägt, der durch sie hindurchfließt: „Medicine River“. Dort befindet sich ein Indianerreservat, und die handelnden Personen sind in diesem Roman von Thomas King fast durchwegs Indianer. King ist übrigens selbst ein Indianer, zwar in den USA geboren, betrachtet sich selbst aber als Kanadier.
Alice Munro ist eine Meisterin ihrer Kunst, wie auch aus der Erzählung „Entscheidung“ ersichtlich wird. Fred Rautenberg las einen längeren Ausschnitt daraus vor: Eine junge Frau, Juliet, hatte bei ihrer langen Eisenbahnreise quer durch Kanada einem einsamen Mitreisenden das Gespräch verweigert. Juliet war sich ihrer Herzlosigkeit dem linkischen, menschlichen Kontakt suchenden älteren Herrn gegenüber bewusst. Doch dieses schlechte Gewissen steigert sich zu einem schrecklichen Schuldbewusstsein, denn ihr Reisegefährte hatte bei einem Aufenthalt den Zug verlassen und sich von diesem wenig später überfahren lassen. Juliet glaubt nun, dass sie mit ihrer Kälte dem Selbstmörder den letzten Anlass gegeben hat, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Die Armen Reichen
Fred Rautenberg konnte seinen Vorlesern zum Schluss wegen Zeitknappheit leider nicht so viel aus Stephen Leacocks Satire „Die Armen Reichen“ vorlesen, wie er gern wollte. Doch der von ihm vorgetragene Ausschnitt ließ trotzdem schon erkennen, mit welch beißender Ironie Leacock schon in den 1920er Jahren die Plutokraten, sprich: die Stink-Neureichen karikierte. Ersichtlich wurde auch, dass sich im Prinzip seither dabei nicht viel geändert hat und dass es wohl schon zu allen Zeiten so gewesen war.
Mit zwei humorvollen Episoden zum Thema Kanada, vorgetragen von Peggy Geßner, klang der Vorlesenachmittag aus. Das Team verabschiedete sich vom zahlreich erschienenen Publikum mit dem Hinweis, dass die nächste Ausgabe von „Mellrichstadt liest“ schon in drei Wochen, nämlich am 6. April, stattfinden wird. Das Land, das die literarische Weltreise dann aufsucht, wird Spanien sein. Alle Freunde unterhaltsam-gehobener Literatur sind schon jetzt dazu eingeladen.