
So viele Farbtupfer im Theaterspiel sah man schon lange nicht mehr. Und so viel munteres Liebesgetümmel gab es auf der Bühne des Meininger Theaters noch nie, in Wolfgang Amadeus Mozarts Oper "Die Hochzeit des Figaro".
Traditionsbewusste Liebhaber der Opera buffa reiben sich die Augen. Wohin verführt sie Regisseur Philipp M. Krenn, Ausstatter Walter Schütze, die Meininger Hofkapelle unter ihrem neuen Generalmusikdirektor Killian Farrell und der Chor unter Leitung von Roman David Rothenaicher?
Vertraute Klänge aus dem Orchestergraben, die in ihrer Vielschichtigkeit sofort die Seele berühren, atemberaubende Arien und genial verwobene Ensemblesätze – das alles in wunderbar stimmiger Interpretation.
Nur die Klänge aus dem Orchestergraben sind vertraut
Aber nirgendwo sind Graf Almavivas Gemächer zu sehen. Die Bühne dreht sich und schleudert die Geschichte in die frühen 1960er Jahre, ins Büro einer Werbeagentur: Schreibsaal, Sozialraum, Direktionszimmer und (fürs Publikum einsehbare) Toiletten.
Mittendrin quirliges, von Zigarettenrauch vernebeltes Angestelltengewusel. Das Treiben wird allerdings kunterbunt, sobald es was zu betriebsfeiern gibt. Sollte die Werbebranche zweihundert Jahre nach den feudalen Eskapaden etwa weniger chaotisch-kreativ sein? So viel Lebensgier, so viel Gegrapsche, so viel unverblümter Sex. Schwerstarbeit für die Me-Too-Bewegung, hätte es sie schon gegeben.
Gestalten tauchen auf, die "Mad Men" entsprungen sein könnten, einer TV-Serie, die das Werbemilieu dieser Zeit präzise beschreibt. Susanna, Figaros Geliebte - ist das nicht die schüchterne Peggy aus der Kreativabteilung?
Aus dem Grafen wird ein Agenturboss
Aus dem Grafen wird Agenturboss Almaviva (Johannes Mooser), dessen Gattin Rosina (Emma McNairy) still im Chefzimmer leidet. Figaro (Johannes Schwarz) und Susanna (Monika Reinhard) sind bieder wirkende Angestellte, wie Marcellina und Barbarina (Marianne Schechtel und Julie Mooser). Der schwer pubertierende Cherubino (Sara-Maria Saalmann) wirkt wie ein allzeit sexbereiter Laufbursche. Und weitere Handlungsträger, wie Bartolo (Selcuk Hakan Tiraşoğlu), Basilio (Tobias Glagau) und Antonio (Mikko Järviluoto), agieren als Freunde des Hauses.

Man staunt über die Fantasie des Völkchens, wenn wieder mal die Post abgeht. Da tummeln sich die Liebenden und die Lüstlinge in einem Meer aus wilden Hühnern, Startrek-Offizieren, Charlie-Chaplin-Verschnitten, den Feuersteins und Figuren aus tausendundeiner Nacht.
Das Publikum lässt sich verführen
Und schon geschieht etwas Wunderbares. Das Publikum lässt sich verführen von Musik, vom Gesang, vom verwirrenden Intrigenspiel, egal in welchem Milieu es geschieht. Die Variationen dessen, was man Liebe nennt, finden sich in Monika Reinhards Rosenarie der Susanna genauso eindringlich wie in Emma McNairys Interpretation der Liebessehnsucht der Gräfin oder Sara-Maria Saalmanns spielfreudiger Deutung von Cherubinos Sexsucht.
Der Regisseur setzt die Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Gefühle in betörend entlarvende und vor allem komische Bilder um. Plötzlich empfindet man keinen Widerspruch mehr zwischen Mozarts himmlischer Musik, der sinnig-sinnlichen Poesie des Librettisten Da Ponte (in italienischer Sprache mit deutscher Übertitelung) und dem Mad-Men-Milieu.
Während aus den Köpfen der Kreativteams vor und hinter den Kulissen die verrücktesten Ideen sprießen, gedeihen zur gleichen Zeit die betörendsten Blüten aus Mozarts unendlichem Kosmos der Fantasie.
Dass beides dem Publikum nicht als Widerspruch erscheinen muss, sondern als Spielarten ein und desselben menschlichen Themas, ist den unmittelbaren Überbringern der Botschaft zu verdanken: den bewundernswert aufeinander eingestimmten Sängerinnen und Sängern. Sie nehmen die Musik mit allen Sinnen dankbar auf, um sie mit spielerischer Empathie ans Publikum weiterzureichen.
Nächste Vorstellungen: 25. November, 20. Dezember, 14 Januar, Kartentelefon: (03693) 451 222. www.staatstheater-meiningen.de