Seit 50 Jahren ist die Lebenshilfe Rhön-Grabfeld für die Menschen da. Am 10. Januar 1971 fand die Gründungsversammlung statt. Seitdem wurde für Menschen mit Behinderung viel bewegt. Die Gesellschaft ist offener geworden. Auch wenn Inklusion in unserer Leistungsgesellschaft manchmal nur eine leere Floskel ist: Von Menschen mit Behinderung könnte man viel lernen. Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft und einfach das, was den Menschen ausmachen sollte: Menschlichkeit.
Die Lebenshilfe ist eine ganz besondere Einrichtung. Man spürt die einfühlsame Atmosphäre, wenn man vor Ort ist und fühlt sich gleich willkommen. So auch beim Pressegespräch im Vielfalthof (ehemaliger Herbertshof) in Leutershausen, in dem auf 50 Jahre Lebenshilfe zurückgeblickt wird. Es sind diese Geschichten, die zeigen, dass die Arbeit für die Lebenshilfe weit mehr ist als Broterwerb. Für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist es die Erfüllung und der Traumberuf schlechthin.
So auch für Ruth Sedlmayr, die in Karlsfeld bei München wohnt. 1972 machte sie bei der Lebenshilfe ihr Berufspraktikum, bis 1976 arbeitete sie hier. "Dann ging es erst einmal in die weite Welt", sagt sie schmunzelnd. Doch der Lebenshilfe blieb sie immer verbunden, was sich auch daran zeigt, dass sie von 2005 bis 2017 wieder hier arbeitete. Sie kann sich noch genau an die erste Zeit in der Lebenshilfe Rhön-Grabfeld erinnern: "Ich arbeitete als Erzieherin an der Schule. Damals gab es hier vier Gruppen, maximal zehn Personen waren in einer Gruppe". Die Bezeichnung war noch eine andere. So wurde die Einrichtung als "Sondervolksschule für geistig Behinderte" bezeichnet. "Heute geht man natürlich mit solchen Bezeichnungen sensibler um", sagt Geschäftsführer Jens Fuhl.
Vor 50 Jahren war eine Behinderung noch ein Tabuthema
In den Anfangstagen der Lebenshilfe war noch vieles anders als heute, erinnert sich Sedlmayr zurück. Für den Unterricht mussten sie selbst einen Lehrplan aufstellen, auf dem Rechnen, Schreiben aber auch kreative Dinge standen. "Damals war eine Behinderung noch ein Tabuthema", so Sedlmayr. Kontakt zu den Eltern gab es so gut wie nicht, Elternversammlungen: Fehlanzeige. "Die Kinder wurden gebracht, in der Schule beschäftigt und dann vom Bus wieder abgeholt", fasst es die Vorsitzende der Lebenshilfe, Brunhilde Hergenhan, zusammen, die selbst eine behinderte Tochter hat.
In den 80er Jahren veränderte sich die Einstellung behinderten Menschen gegenüber. Das erwähnt Annette Scheuring, die im Oktober 1980 bei der Lebenshilfe in Unsleben als Gymnastiklehrerin eingestellt wurde, und zwar in der Tagesstätte: "Ich habe hier die Bewegungsfächer abgedeckt: Schwimmen und Tanzen waren mir immer sehr wichtig". Ebenso, dass Körper, Seele und Geist als Einheit wahrgenommen werden. "Damals war viel im Umbruch, es war im Gegensatz zu den 70ern einfach eine andere Welt." Das bedeutete, dass sie mit ihren Schützlingen auch viel in der Natur unterwegs war. Weihnachten, Muttertag und Geburtstage wurden gefeiert, auch die Eltern wurden mehr und mehr integriert. "Ich kann mich auch noch sehr genau an das große Fest in Sandberg erinnern, das damals im Rahmen der Aktion Mensch durchgeführt wurde", so Scheuring. Besonders gut in Erinnerung ist ihr der Auftritt, den Menschen mit Behinderung im Rahmen des Festes hatten. Besonders wichtig sei ihr gewesen, dass ihre Schützlinge öffentlich sichtbar werden. Und auch zeigen, was sie alles können. "Der Austausch untereinander war auch für uns Eltern sehr wichtig", betont Brunhilde Hergenhan, deren Tochter Julia seit 1983 in Unsleben in der Schule war. Auch gemeinsame Wanderungen gab es jetzt, die allen viel Spaß gemacht haben.
Raus in die Welt
"Schule und Lebenshilfe trauten sich, auch mal raus in die Welt zu gehen. In dieser Zeit hat sich wirklich einiges geändert", bestätigt Geschäftsführer Jens Fuhl. Genauso sieht das auch Petra Achtziger. Sie wurde 1985 eingestellt, arbeitete unter anderem in den Wohnheimen Brendlorenzen, Mühlbach und Hohenroth und ist jetzt im Wohnheim in Mellrichstadt tätig. "Früher saßen die Menschen mit Behinderung oft in ihren Zimmern und wurden mit Meditation beschäftigt. In den 80er Jahren ging es dann öfter auch raus. Man traute sich zunehmend unter die Leute. Die Menschen sind da so richtig aufgeblüht", so Achtziger.
In besonders guter Erinnerung sind ihr die Urlaubsfahrten geblieben. Diese seien zwar stressig gewesen, aber auch wunderschön und unvergesslich. Die erste Ferienfreizeit war 1986, 17 Menschen mit Behinderung und unterschiedlichsten Hilfebedarfen und drei Betreuer fuhren gemeinsam nach Salzburg. "Um die Ausflüge mussten wir uns selbst kümmern, 14 bis 15 Stunden am Tag und auch in der Nacht waren wir im Einsatz. Aber wir haben diese Ferienfreizeit sehr genossen", erinnert sich Achtziger zurück. Natürlich musste auch selbst gekocht werden. "Die finanzielle Ausstattung fehlte damals noch, entsprechend einfach und spartanisch waren die Unterkünfte, in denen auch mal Betreute und Betreuer zusammen in einem Zimmer schlafen mussten", sagt Fuhl.
"Für die Eltern war die jährliche Freizeit eine Entlastung", betont Annette Scheuring. "Auch, wenn es für die Eltern erst nicht leicht war, loszulassen", ergänzt Hergenhan. So fuhren manche Eltern sogar mit an den Urlaubsort und buchten sich in der Nähe ein Hotel. "Mittlerweile ist es aber selbstverständlich, dass die Kinder allein auf die Freizeiten gehen", sagt sie weiter.
Öffentliche Wahrnehmung hat sich gewandelt
In der öffentlichen Wahrnehmung habe ein Wandel der Einstellung stattgefunden, meint Geschäftsführer Fuhl: "Menschen mit Behinderung können und sollen auch in der Arbeitswelt in den Betrieben mitarbeiten, damit sie in der Gesellschaft sichtbar sind." Teilweise noch bis in die 90er Jahre sei es in vielen Handwerksbetrieben üblich gewesen, dass Menschen mit Behinderung dort in Helfertätigkeiten beschäftigt waren. Durch die stetige Optimierung und Automatisierung von Arbeitsprozessen seien viele Menschen in die Werkstätten gespült worden, die durchaus in der Lage gewesen wären, verwertbare Arbeit auch außerhalb des geschützten Bereichs zu leisten.
Doch natürlich gibt es auch einige negative Dinge, die die Entwicklung in der Lebenshilfe mit sich gebracht hat. "Wir verbringen rund 35 Prozent unserer Arbeitszeit damit, Dokumentationen, Statistiken und sogar Gefährdungsbeurteilungen für Kaffeemaschinen zu schreiben", sagt Geschäftsführer Fuhl. "Es wäre sinnvoller, diese Zeit in die Arbeit mit unseren Schützlingen zu investieren", bestätigt Annette Scheuring.
Oliver Heinz, der seit 2012 im Wohnheim in Hohenroth wohnt und ehrenamtlich als Heimbeirat tätig ist, findet die Betreuung hier ideal. Bedauerlich findet er es allerdings auch, dass die Pfleger mit so viel Bürokratie konfrontiert sind. "Ich will lieber jemanden zum Reden haben." Ihm gefällt es im Wohnheim in Hohenroth sehr gut. "Hier habe ich alles, was ich brauche. Und ich komme mit den Leuten hier sehr gut klar."
Einfach ein Stück Familie
"Die Lebenshilfe war auch immer ein Stück Familie", findet die Vorsitzende der Lebenshilfe Rhön-Grabfeld, Brunhilde Hergenhan. "Ich denke, dass das auch der Kern der Lebenshilfe ist. Wir sind zwar klein, aber genau das zeichnet uns aus. Bei uns ist alles sehr familiär, überschaubar und persönlich. Hier ist jeder einzelne wichtig", sagt Jens Fuhl. "Für uns ist es selbstverständlich, dass wir die uns anvertrauten Menschen durch ihr Leben begleiten, und nach Möglichkeit auch auf dem letzten Weg in der vertrauten Umgebung ihrer Wohnstätte im Beisein der Mitbewohnerinnen und Mitbewohner und Betreuerinnen und Betreuer dabei sind, eben wie in einer normalen Familie. Das ist einfach ein gutes Gefühl für uns Angehörige", so Brunhilde Hergenhan.
Menschen mit Behinderung werden heute in der Gesellschaft viel mehr wahrgenommen. Das zeigt sich auch an den jetzt viel individuelleren Unterstützungsangeboten. Begann man 1971 mit einer Handvoll Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und dem Betrieb einer Schule mit Tagesstätte, so umfasst das Angebotsspektrum mit der Frühförderung für Kinder ab Geburt und der Wohnstätte für Senioren Hilfen für alle Altersgruppen. Teilstationäre Betreuungsangebote, wie die Tagesförderstätte, die Offenen Hilfen und das ambulant betreute Wohnen runden die Angebote bedarfsgerecht ab. Heute arbeiten 263 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Lebenshilfe Rhön-Grabfeld und seiner Tochtergesellschaften mit oder für Menschen mit Behinderung im Landkreis.
Insgesamt haben sich in den vergangenen 50 Jahren die Angebote, die an Menschen mit Behinderungen gemacht werden, stark erweitert. "Das macht uns Mut", so Fuhl. Für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war und ist die Arbeit bei der Lebenshilfe etwas ganz Besonderes. "Wir sind der Anwalt für die Menschen mit Behinderungen und haben gemeinsam alles geteilt. Für uns war das eine ganz besondere Zeit", pflichtete ihm Annette Scheuring bei. "Die Menschlichkeit steht in der Lebenshilfe Rhön Grabfeld im Vordergrund", sagt die Vorsitzende Brunhilde Hergenhan abschließend. Heute wie vor 50 Jahren.