
Mitte Juli klingelte bei Karmen Wille in Stockheim das Telefon. "Weißt du eigentlich, dass bei euch 20 Asylbewerber aus Afghanistan angekommen sind?" Marianne Fritz vom Solidaritätsteam für Flüchtlinge aus Mellrichstadt verkündete mit einer Frage überraschende Neuigkeiten. Karmen Wille wusste von nichts. Doch für die Stockheimerin, die sich seit Jahren im Mellrichstädter Asylkreis engagiert, stand sofort fest, dass sie den Neuankömmlingen in ihrem Heimatort zur Seite stehen wird.
Wie viel sie in den kommenden Tagen und Wochen leisten muss, ahnt sie da noch nicht. "Eigentlich unterrichte ich Flüchtlinge in Deutsch, jetzt bin ich Mädchen für alles", sagt sie lachend. Gefühlt ist die Betreuung der afghanischen Männer, Frauen und Kinder derzeit ein Halbtagsjob, sagt sie im Gespräch mit dieser Redaktion. Doch einfach wegschauen und die Dinge ihren Lauf nehmen lassen, ist nicht die Art der Mittfünfzigerin. Sie hat einen Helferkreis für geflüchtete Menschen in Stockheim ins Leben gerufen und hofft darauf, dass sich noch mehr Menschen aus der Gemeinde einbringen werden.
Neuankömmlinge lernen die Gemeinde kennen
Karmen Wille, die als Verwaltungsangestellte am Martin-Pollich-Gymnasium in Mellrichstadt arbeitet, hat neben ihrem Job gerade alle Hände voll zu tun. Vieles will organisiert sein, um den Neuankömmlingen das Leben in der Gemeinde zu erleichtern. Das Landratsamt hat als Unterkunft die ehemalige Heilmann-Villa vor den Toren von Stockheim angemietet, vier Familien sowie mehrere junge Männer sind dort untergebracht.
Bei einem Rundgang hat sie ihnen gezeigt, auf welchem Weg man am besten ins Dorf kommt und wo Metzger und Bäcker zu finden sind, um einkaufen zu können. Den Anliegern hat sie dabei gleich die neuen Nachbarn vorgestellt. Unterwegs haben sich die Afghanen auch die Kirche St. Vitus angeschaut. Und den Spielplatz am Bahnhof, wo sich die Kinder austoben können.
Die Alte Schule war eine weitere Station auf dem Rundgang durch Stockheim. Hier finden die Deutschkurse statt, die Karmen Wille anbietet und an denen möglichst alle Asylbewerber teilnehmen sollen. Sprache ist schließlich der Zugang zum Leben in der neuen Heimat, das weiß Karmen Wille aus ihrer Arbeit im Mellrichstädter Helferkreis nur zu gut. Das Lernen ist freiwillig, was bedeutet, dass auch ein Stück weit Motivationsarbeit geleistet werden muss.
Zwei junge Dolmetscher sind Gold wert
Zwei Deutschkurse wurden eingerichtet, um die Neuankömmlinge da abzuholen, wo sie stehen. Kriterien für die Zuordnung sind, wer lesen und schreiben kann und wer sogar schon ein bisschen Deutsch gelernt hat. Aimal, ein 18-jähriger Afghane, der schon in die Berufsschule geht, hilft beim Übersetzen. Und weitere Unterstützung ist in Sicht: Ein 16-jähriges Mädchen aus Afghanistan, das in Ostheim lebt und schon gut Deutsch spricht, will ebenfalls zu den Kursen kommen und dolmetschen. "Das ist natürlich Gold wert", freut sich die Stockheimerin.

Ein großer Wunsch der Helfer für ihre zukünftige Arbeit in der Flüchtlingshilfe ist ein Internet-Anschluss in der ehemaligen Heilmann-Villa, wie es ihn mittlerweile in der Alten Schule in Stockheim gibt. Dann könnten die Neuankömmlinge Deutsch via App lernen, was den Unterricht ihrer Erfahrung nach erleichtern würde. Doch es gibt auch so schon kleine Erfolge: Wo sie wohnen und wie sie heißen, konnten die Männer nach der ersten Stunde angeben, Kinder, die in Afghanistan die Schule besucht haben, konjugieren in Stockheim nun schon deutsche Verben. Am Bildungsstand der Frauen will Karmen Wille gern arbeiten, sofern sie zum Unterricht kommen.
Gesucht: Fahrräder für die Flüchtlinge
Für die drei Schulkinder, die in den letzten Tagen des vergangenen Schuljahres schon einmal in den Schulalltag hineingeschnuppert haben, hatte sie eine kleine Zuckertüte gepackt und sie persönlich in Grund- und Mittelschule gebracht, um ihnen zum Start eine Freude zu machen. Und auch bei der ersten Busfahrt nach Hause war sie dabei, um den Kindern eine Hilfestellung zu geben.
"Wir vom Helferkreis zeigen den Neuankömmlingen, wie sie hier zurechtkommen können. Das fängt bei den alltäglichen Dingen wie Einkaufen und Mülltrennung an und geht über Behördengänge bis hin zu Arztbesuchen", sagt Karmen Wille. Dabei sei aber stets die Devise, den Flüchtlingen nicht alles abzunehmen, sondern Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. "Das Wichtigste ist, die Menschen in Lohn und Brot zu bringen, sodass sie eine eigene Wohnung beziehen und selbstständig leben können", ist auf lange Sicht ihr Ziel.

Auf kurze Sicht müssen erst einmal Fahrräder her. Ein Rad zu haben, ist ein großer Wunsch der Asylsuchenden, um ein Stück weit mobil zu sein. Die Helfer haben daher einen Aufruf gestartet: Wer ein Fahrrad übrig hat, kann dieses bei der Firma BHS im Gewerbegebiet in Stockheim zu den Öffnungszeiten abgeben. Die Räder werden anschließend vom Helferkreis nach Bedarf ausgegeben.
Geburt sorgt für Aufregung
Nicht nur alltägliche Dinge sind derweil zu organisieren, auch Unvorhergesehenes bleibt nicht aus. Aus den 20 Flüchtlingen sind nämlich zwischenzeitlich 21 geworden. Das fünfte Kind einer afghanischen Familie hatte bei seiner Geburt für ordentlich Aufregung gesorgt. Als in der Nacht bei der Mutter die Wehen losgingen, rief der Ehemann die Notfallsanitäter in die Mellrichstädter Straße 35, wie es ihm Karmen Wille im Vorfeld gezeigt hatte. Doch die Sanitäter ließen auf sich warten. Sie standen im Nachbarort Eußenhausen, wo es eine gleichlautende Straße gibt. Letztendlich schaffte es die Frau durch Mithilfe von Karmen Wille doch noch ins Krankenhaus, wo der jüngste Spross der Familie zur Welt kam.
Doch damit war die Sache noch nicht erledigt. Wer holt die Frau aus dem Krankenhaus ab, wer kümmert sich um die Nachsorge bei Mutter und Kind? Karmen Wille besorgte einen Maxi-Cosi und bat Manfred Klement um Hilfe, der die Familie zurück nach Stockheim brachte. Eine Einweisung für die Nachsorge gab ihr eine Krankenschwester aus den Campus am Telefon, Flurtabletten fürs Kind und weitere Medikamente hat sie anschließend in der Apotheke besorgt. Und sie ist weiterhin für Mutter und Kind da, wenn es Fragen und Probleme gibt.
Integration durch Sport
Der Garten von Karmen Wille ist mittlerweile zu einem regen Treffpunkt geworden. Bei der Bewältigung aller anfallenden Aufgaben kann sie auch auf Helfer aus den Reihen ihrer ehemaligen Pfadfinder bauen – die Stockheimerin ist seit über 40 Jahren in der Jugendarbeit in der Gemeinde aktiv.
Kontakte hat sie auch bereits zum TSV geknüpft: Sechs junge Männer aus Afghanistan möchten gern Fußball spielen. Wille hofft darauf, dass die Integration über den Sport Früchte trägt. Beim Strong Kids Run in Ostheim waren auch schon drei Kinder aus Stockheim am Start und haben stolz ihre erste Urkunde in der neuen Heimat in Empfang genommen.
Acht Personen zählt der Stockheimer Helferkreis derzeit, weitere Unterstützer sind jederzeit willkommen. Interessenten können sich per E-Mail unter hilfe.stockheim@web.de melden.