Verdammt, wo sind wir hier? Verloren im eigenen Land? Verloren im eigenen Haus? Verloren im eigenen Kopf? Verloren im Dschungel? In Joseph Conrads „Herz der Finsternis“? In Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“? Am Hindukusch? Vor der somalischen Küste? In der Werrataler Kleingartensiedlung? – Überall, und außerdem in den Meininger Kammerspielen, mitten in der „Lächerlichen Finsternis“. Na dann: Fröhliches Assoziieren!
„Die lächerliche Finsternis“ ist ein albtraumhaft schräges Stück nach einem Hörspiel von Wolfram Lotz, in dem sich nicht nur vier wild entschlossene Schauspieler durchs Dickicht der Bühne bewegen, sondern ein paar honorige Herren vom Liederkranz Rohr Eingeborene spielen dürfen, deren Dschungelheimat verdächtig vertraut nach deutschem Schrebergarten aussieht, und die sich spätestens nach dem Vortrag deutschen Liedguts auch als solche erweist.
So strapaziert wie in diesem, von Regisseur Christoph Todt in Szene gesetzten Stück wurde unsere Gedankenverknüpfungsapparatur schon lange nicht mehr. Kuscheln wir uns in einem Augenblick in dem von Ausstatterin Elise Sophia Richter gebastelten kleinbürgerlichen Milieu ein (entstanden in Kooperation mit der Dresdner Hochschule für Bildende Künste), werden wir im nächsten Moment schon wieder aus ihm hinauskatapultiert. Gartenhäuschen mit Veranda, Gartenzwerg, Klapp- und Plastikstühle, Wäscheleinen, Dixieklo, Altreifen – das ganze Mobiliar verliert sich im Dschungellabyrinth.
Die Welt ist aus den Fugen und mit ihr unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Plötzlich schippern wir auf einem Patrouillenboot an der Seite zweier Bundeswehrsoldaten mit obskuren Auftrag den Hindukusch hinauf, als wäre er ein Fluss und kein Gebirgsmassiv. Wir schippern durch die irrsinnigsten Regionen, die ungefähr dem entsprechen, was als Bruchstücke einer fernen Realität durch unseren Kopf geistert – als Resultat globaler Nonstop-Information über Kriege, Krisen und Katastrophen auf allen Kanälen.
Diese Informationstrümmer vermischen sich in unserem Hirngespinst mit den gestrandeten Überbleibseln des Infotainment-Universums: Zum Beispiel – in diesem Stück – mit sprechenden Papageien, Creperien, Leichenwagen, Partypillen, Markisen, Einliegerwohnungen, Ligusterhecken und Grillwürstchenzangen. Dass sich in diesem Tohuwabohu an unverarbeiteten Impressionen und Informationsschnipseln die eigene Kindheit am Grunde einer Obstkonservendose findet – wen wundert's?
Das, was uns als nebulöse, verzerrte Bilder der medial vermittelten und gegoogelten Wirklichkeit durch den Kopf geistert, wird auf der Bühne albtraumhafte Realität. Das verunsichert und stellt gleichzeitig gewohnte Denkmuster in Frage und die Illusion eines immerwährenden persönlichen Idylls. Deutscher Kleingarten. Die chaotisch zusammengewürfelten Bruchstücke eigener und fremder Wirklichkeiten werden vom Inszenierungsteam und von den vier Schauspielern Christine Zart (Hauptfeldwebel), Patric Seibert (Unteroffizier), Matthias Herold und der jungen Meiningen-Debütantin Carla Witte (beide in unterschiedlichsten Rollen) virtuos aufgegriffen, in die Luft geworfen, wieder aufgefangen und neu zusammengesetzt.
Am Ende des zweistündigen pausenlosen Spektakels haben wir keinen erkenntnisleitenden roten Faden in der Hand. Dafür aber eine Kette wild geknüpfter Assoziationen – von der ungebrochenen Macht neokolonialistischen Denkens über die Anmaßungen eines religiös verbrämten Fanatismus bis zur Angst zivilisierter Kleinbürger vor dem Fremden und vor dem Verlust ihrer letzten Refugien. Und schließlich folgen erschreckende Einblicke in die Verlassenheit ins Leben geworfener Menschen.
Das Seltsamste an diesem Abend: Nach der Irrfahrt durch die Finsternis müssen wir uns erst kräftig die Augen reiben, um die Vorstellung abzuschütteln, wir hätten uns die ganze Zeit durch nichts anderes als das labyrinthische Gewirr deutschen Kleingeists geschlagen.
Nächste Vorstellungen: 20. und 28. November, jeweils 20 Uhr. Extra: Finsternis im Schrebergarten, am 19. November um 20 Uhr. Kartentelefon: Tel. (0 36 93) 45 12 22 o. -45 11 37. www.das-meininger-theater.de