Das Überleben im Notfall sichern, das lernt man im Erste-Hilfe-Kurs – ansatzweise schon in Kindergarten und Schule, spätestens mit dem Führerschein. Leid am Lebensende zu lindern und dabei größtmögliche Lebensqualität zu erhalten, das ist die sogenannte Letzte Hilfe. Die steht allerdings bislang auf keinem Lehrplan.
„Die Erste-Hilfe ist im Bewusstsein der Gesellschaft verankert“, sagt Dr. Ute Hiby, Leitende Ärztin der Palliativstation an der Rhön-Kreisklinik Bad Neustadt (Lkr. Rhön-Grabfeld), „der Umgang mit Sterbenden und Schwerkranken hingegen gehört nicht mehr zum gesellschaftlichen Allgemeingut“. Ein Mitteleuropäer sei im Durchschnitt nur noch alle 15 Jahre mit einem Todesfall in der Familie konfrontiert. „Was ja ein Geschenk ist“, sagt Hiby. Die Unsicherheit, die daraus erwächst, ist die andere Seite der Medaille.
Viele Teilnehmer der Kurse sind persönlich betroffen.
Das Bedürfnis, im Umgang mit Sterbenden informierter zu sein und sicherer zu werden, besteht durchaus, wie das große Interesse an dem Letzte-Hilfe-Kurs des Rhön-Grabfelder Hospizvereins zeigt. Bereits das zweite Jahre in Folge bot Hiby in Bad Neustadt den zwei Abende umfassenden Kurs in Zusammenarbeit mit dem Verein an. „Ich musste zahlreichen Interessenten absagen“, bedauert Heike Sahin, hauptamtliche Koordinatorin des Hospizvereins, so groß war die Nachfrage.
„Irgendwann kommt das Thema auf mich zu, ich bin froh, wenn ich gerüstet bin“, nennt eine Besucherin den Grund für ihre Teilnahme. Viele Kursteilnehmer sind persönlich betroffen, pflegen Familienangehörige oder mussten kürzlich den Tod eines nahe stehenden Menschen verkraften. Andere sind als Alten- oder Krankenpfleger beruflich täglich mit dem Thema Sterben konfrontiert.
Pausen machen ist wichtig.
„Wann beginnt das Sterben?“, fragt die Referentin in die Runde. Die Antworten sind vielfältig: „Nach der Geburt“, sagt eine Dame. „Wenn die Kraft zum Kämpfen nachlässt“, eine andere. „Das Leben ist Veränderung“, bestätigt Hiby. „Verluste und Trauer begleiten uns unser ganzes Leben.“ In ihrem Vortrag nennt sie frühe und späte Anzeichen des nahenden Todes: Das Interesse an Essen und Trinken, Mitmenschen und Umwelt lasse nach. Aber auch Schwäche, Müdigkeit, Bettlägerigkeit und eventuell Phasen von Angst und Unruhe wie vor einer großen Reise.
Für manch einen würden Besuche anstrengend, was nicht als Ablehnung der Angehörigen missverstanden werden solle. „Sterbende brauchen keinen Rummel“, so Hiby. Sie warnt Begleitende davor, aus Hilflosigkeit in Aktionismus zu verfallen. Einfach „da sein“ sei oft genug. Dabei sei es aber wichtig, Pausen zu machen und mit den Kräften hauszuhalten. „Bleiben und Aushalten“ könne für Angehörige äußerst fordernd sein, vor allem bei körperlich und psychisch veränderten Patienten.
Auch wenn der Kranke zu schwach sei, aktiv an einem Gespräch teilzunehmen, solle man im Hinterkopf behalten, dass er mithört. „Nicht über ihn sprechen, sondern ihn ansprechen“, rät Hiby. Das Bewusstsein nehme zum Lebensende hin ab, der Hörsinn allerdings bleibe relativ lange erhalten. Mit der veränderten Bewusstseinslage könne es zu Vewirrungs-Zuständen kommen. Einer ruft nach der längst gestorbenen Mutter, ein anderer fragt nach der Apfelernte. „Nicht korrigieren!“, bittet Hiby.
Sterben verläuft nicht linear
Mit dem veränderten Kreislauf würden Hände und Füße kalt. Die Atmung verändere sich, werde unregelmäßig, oft geräuschvoll und rasselnd. Suche der Betroffene das Gespräch solle man nicht ausweichen nach dem Motto „Das wird schon wieder.“ Gebe es Unausgesprochenes dürfe man auch als Zugehöriger ein Gespräch eröffnen. „Aber bitte kein Gespräch erzwingen, der Betroffene steht im Vordergrund.“ Sind Kinder involviert, sollte man sie offen in die Situation einbeziehen. „Kein Geheimnis daraus machen, das macht es nur bedrohlicher.“
Häufig werde sie als Ärztin mit der Frage konfrontiert: „Wie lange dauert es noch?“ Das sei schwierig zu beantworten. Denn Sterben verlaufe nicht linear. „Manchmal verläuft das Sterben in Wellen.“ Gute und schlechte Phasen könnten abwechseln.
Manch einer, berichtet Hiby, möchte alleine sterben und wartet, bis der Angehörige die Parkuhr umstellt oder aufs Klo geht, um endgültig zu gehen. In dem Fall solle man sich nachher nicht mit Schuldgefühlen plagen. Andere wundern sich, weshalb der Kampf ihrer Zugehörigen so lange dauert. „Mit was ist er noch nicht fertig?“, fragen sie sich. „Sterben ist ein Prozess und geht meistens nicht schnell“, antwortet Hiby dann. Richtung Pflegepersonal wirbt sie um Verständnis: „Nicht nur der Sterbende, auch die Zugehörigen brauchen in dem Moment Sorge.“
Symptome könne man mit Medikamenten, Massagen, Aromatherapie oder der richtigen Lagerung lindern. Vielen mache Mundtrockenheit zu schaffen, auch da empfiehlt Hiby Hilfsmittel. Angehörige, erzählt sie, „verbeißen“ sich oft in das Thema Essen. Deshalb ist ihr wichtig: „Der Betroffene entscheidet, wie viel er isst und trinkt“, auch wenn es für den Angehörigen unendlich schwer ist, das abnehmende Durst- und Hungergefühl hinzunehmen. „Man stirbt nicht, weil man aufhört zu essen und zu trinken. Man hört auf zu essen und zu trinken, weil man stirbt.“
Wer den eigenen Willen bei einer schweren Krankheit durchsetzt, muss festgelegt werden
Aus Erfahrung weiß sie: „Eine Therapiebegrenzung oder einen Abbruch festzulegen, kann an die Grenzen der Kraft eines Zugehörigen gehen.“ Deshalb sei es hilfreich, rechtzeitig festzulegen, was man im Falle einer schweren Krankheit will und wer diesen Willen für einen durchsetzen soll. Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht erleichtern das Ringen um die richtige Entscheidung. Auch auf die Themen Bestattung und Trauer geht Hiby ein.
Nur mit ihrer ruhigen Stimme, einfühlsam ohne sentimental zu werden, sachlich ohne gleichgültig zu sein, fesselt die Ärztin ihr Publikum. Fragen und Diskussionen sind jederzeit möglich, so wird der Vortrag an vielen Stellen zur offenen, persönlichen Aussprache. Hibys große Stärke dabei: Sie kann Pausen aushalten.
„Gewöhnt man sich an den Tod?“, fragt eine Teilnehmerin die Leitende Ärztin der Palliativstation. „Gewöhnen nicht“, antwortet Hiby, „aber es betrifft einen nicht jeder Tod gleich.“ Insbesondere nehme man den Tod eines Patienten auf andere Art und Weise wahr als den des eigenen Angehörigen. „Mitgefühl und Betroffenheit sind aber immer da.“
„Man kann nicht mit jedem mitsterben“, bestätigt eine im Pflegebereich tätige Teilnehmerin. Trauer gehöre dennoch dazu, Rituale im Team helfen beim Verarbeiten. Die Nähe zum Tod habe auch etwas Gutes. „Es lässt einen selber bewusster leben“, so Hiby. „Es ist ein Geschenk, jemanden in den Tod begleiten zu dürfen“, macht sich eine Teilnehmerin dafür stark, den Tod zu enttabuisieren. Sie hat das selbst erfahren.
Wie existenziell es ist, den Tod eines Nahestehenden zu erleben, formuliert eine andere Teilnehmerin. Dabei glaubte sie, vorbereitet zu sein. „Die Endlichkeit dann tatsächlich zu erleben, war hammerhart.“ Wieder einer dieser Momente, in denen Hiby die Pause zulässt, innehält, um die adäquate Antwort für ihr Gegenüber zu finden: „Die Realität des Verlusts kann man nicht vorausfühlen.“