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BAD NEUSTADT
Guerilleros im Staatstheater
Wie in Trance betreten wir eine Märchenwelt, die uns - im wahren Sinn des Wortes  - gefangenimmt. Noch heute raubt es einem den Atem, wenn man in die Welt des Standhaften Zinnsoldaten eintaucht.
Foto: Lutz Edelhoff | Wie in Trance betreten wir eine Märchenwelt, die uns - im wahren Sinn des Wortes - gefangenimmt. Noch heute raubt es einem den Atem, wenn man in die Welt des Standhaften Zinnsoldaten eintaucht.
Siggi Seuß
 |  aktualisiert: 30.07.2017 02:57 Uhr

Was nistet sich bei einem Theaterbesucher an Erlebnissen im Lauf der Jahre wirklich so in der Erinnerung ein, dass er selbst nach langer Zeit mit leuchtenden Augen kundtun könnte: „Das waren Sternstunden!?“ – Viel weniger als vermutet.

Zu den Theaterereignissen in Meiningen, die sich fest in meinem Gemüt verwurzelt haben, gehört eine Inszenierung, die nicht länger als 50 Minuten dauerte. Zudem war sie in der kleinsten Sparte des Hauses, im Puppentheater, beheimatet: eine fantastische Reise nach Hans-Christian Andersens Märchen „Der standhafte Zinnsoldat“. Ich war damals hin und weg von dem, was das kleine Team um Puppenspieler Stefan Wey auf die Bretter von Georgie's Off gestellt hatte.

Mainpost vom 4. Dezember 1998: „Auf dem Boden liegt, an Schnüren, die sich im Theaterhimmel verlieren, befestigt, ein riesiges weißes Zelttuch. Unter ihm verbirgt sich – wie ein Eisblock – ein geheimnisvoller Gegenstand. Irgendwie erinnert dieses Bild an eine Polarlandschaft aus der 'Schneekönigin'.

Dann schreitet ein weißbefrackter Herr mit Zylinder herein – der Schauspieler Stefan Wey -, murmelt, singt, klagt, läuft im Kreis, sieht das Publikum und mimt den wehleidigen Andersen.“

Damit beginnt eine unglaubliche Geschichte

Damit beginnt eine unglaubliche Geschichte, die mir noch neunzehn Jahre später die Gänsehauthärchen zu Berge stehen lässt. Mainpost: „Ein Wunder geschieht! Unser Erzähler schwebt auf Wolken. Andersen träumt auf schneeweißen Wolken! Spätestens ab diesem Ereignis verschwimmen für uns die Grenzen von Realität und Fiktion und alle – ausnahmslos alle – werden zu Gestalten des Märchens.“

Das war der Beginn einer wundersamen Liebe zum Theater der kleinen Form und zu den fantastischen Möglichkeiten, die in ihm stecken, wenn man sie denn zu entdecken und zu hegen und pflegen bereit ist. Und so wiederholte der Kritiker in den Folgejahren, wenn ihn wieder einmal eine Inszenierung des Puppentheaters enttäuschte, gebetsmühlenartig die Botschaft im Sinne von „Leute, traut euch, gegen Konventionen zu inszenieren. Führt eure Geschichten, die ihr spektakulär beginnt, auch zu einem spektakulären Ende.

Nehmt euch ein Beispiel am 'Zinnsoldaten'. Die Qualität einer Geschichte hängt nicht von der Masse gesprochener Worte ab, auch nicht von gut gemeinten Botschaften, sondern davon, ob uns das Gesehene im Innersten trifft – in unseren Ängsten und in unseren Sehnsüchten.“

Das Stück hatte einen riesigen Erfolg

Dass die Euphorie des Kritikers damals nicht aus dem Ungefähren kam, zeigte in den folgenden beiden Jahrzehnten der riesige Erfolg des Stücks. Weltweit. Fast 800 Mal wurde der Meininger Zinnsoldat inzwischen aufgeführt – ein Ende ist noch nicht abzusehen. Er hat internationale Preise eingeheimst und wurde in vielen Ländern Europas gezeigt, auch in Weißrussland und Russland, ja selbst auf anderen Kontinenten, in den USA, in Kanada, in Südkorea, in Japan. Demnächst wird er sogar nach Nordafrika, nach Algier, wandern. Mehr als 600 Aufführungen hat Stefan Wey selbst bestritten, in deutscher, englischer und in französischer Sprache. Die Produktion, die einstmals um die 35 000 Mark kostete, hat inzwischen über eine Million Euro eingespielt.

Nie mehr wieder nach Meiningen

Trotzdem fand Wey nach 1998 nie mehr mit einer neuen Inszenierung den Weg nach Meiningen. Zwar hat er dort immer wieder einmal den Zinnsoldaten gezeigt, aber eine kontinuierliche Zusammenarbeit ergab sich nicht. Dafür entdeckte Wey seine Liebe zu den Puppenkünstlern des Theaters Gera-Altenburg, mit denen er als Regisseur außergewöhnliche Inszenierungen für Erwachsene in die Welt setzte, zum Beispiel ein Stück nach Ferdinand von Schirachs Roman „Verbrechen“. Oder „Die große Reise“ nach dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Jorge Semprún, der den Transport von einem französischen Internierungslager ins KZ Buchenwald beschreibt. Dazu ließ Wey eigens den Zuschauerraum zu einer Art geschlossenen Güterwaggon umbauen.

Der in Wasungen auf einem Bauernhof aufgewachsene Künstler hatte zwar nicht vor, in Meiningen sesshaft zu werden, trotzdem erstaunt, dass man ihn nach 1998 nicht mehr als Gast für ein neues Stück ans Haus geholt hat. Der Absolvent der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin kann deshalb über die Meininger Theaterjahre nach dem Tod Ulrich Burkhardts so gut wie nichts erzählen, obwohl er für Augenblicke ein einzigartiges Teilchen dieser Theaterzeit war.

Nach dem Studium war er bis 1996 Ensemblemitglied der renommierten Erfurter Puppenbühne Theater Waidspeicher.

2000 bis 2005 war er fest am Weimarer Nationaltheater engagiert

2000 bis 2005 war er fest am Weimarer Nationaltheater engagiert – für ihn eine „unglaublich wichtige Zeit“. Seither ist er wieder als freier Künstler unterwegs, als Regisseur, Schauspieler, Puppenspieler und Rezitator. Mit seiner Frau, der Schauspielerin und Sängerin Maria-Elisabeth, hat er im Lauf der Jahre ein altes bäuerliches Anwesen in der 80-Seelen-Gemeinde Friedrichsdorf, nordwestlich von Erfurt, zu einem schmucken Domizil verwandelt.

Das Gespräch mit Stefan Wey bei ihm zu Hause überrascht. Er fühlte sich zwar nie als einer der Meininger Theaterpioniere der Aufbruchzeit, in den Jahren zuvor jedoch war er dem Haus inniglich verbunden, seit er 1986 als Eleve zu der eben gegründeten Meininger Puppentheatergruppe um Rolf Thieme stieß und zusammen mit der Truppe, sozusagen im Thespiskarren, durch die thüringische Rhön zog.

Da musst du hin. Das sind Freigeister

„Thieme schaffte zwei Zirkuswagen an und wir fuhren mit dem Traktor von Dorf zu Dorf, Dornröschen, Pinocchio und den Urfaust im Gepäck.“ Das Meininger Theater wurde ihm in jenen Jahren zur Überlebenshöhle: „Durch Freunde in der Technik hatte ich schon vorher Zugang zur Kantine, hatte bereits Blut geleckt und wusste: 'Da musst du hin. Das sind Freigeister, Leute, die so ähnlich denken wie du und mit dem ganzen Staat nichts anfangen können.' Wir haben Tag und Nacht im Theater verbracht. Unten in der Kantine ging es sehr robust zu, sehr freundlich und sehr herzig. Das war für mich wie eine Insel.“

Als Stefan Wey 1997 von der Puppentheaterchefin Maria Zoppeck eingeladen wurde, in Meiningen eine Geschichte in die Welt zu setzen und ihm dabei freie Hand gewährt wurde, sagte er spontan zu, ohne zu wissen, was er sich mit dem selbst gewählten Zinnsoldaten einhandeln würde. Er traf sich unter anderem mit Tobias J. Lehmann, dem Regisseur, den Ausstattern Ingo Mewes und Thomas Klemm und der Kostümbildnerin Ira Haussmann. Die Idee reifte, die Inszenierung mit einem im Theaterraum aufblasbaren Zelt zu verbinden.

Oh Gott, was wird das jetzt?! Zu groß! Zu viel! Von allem!

„Wir waren so etwas wie Theaterguerilleros. Auch heute noch versuche ich als Regisseur, die Einzelteile einer Geschichte nicht von vornherein zusammenzukitten, sondern spontan aufeinander einwirken zu lassen. Es muss immer Raum bleiben für Spannung. Wir wussten damals zwar, wie man das Ding aufbläst. Aber erst beim Aufblasen haben wir festgestellt: 'Sieht toll aus. Jetzt müssen wir noch ne Geschichten erfinden, warum wir das Ding vor den Zuschauern aufblasen und die sich erst einmal fragen, was da jetzt eigentlich passiert.' - Wir haben uns frei im Haus bewegt, waren nicht einzuordnen, haben bis tief in die Nacht wie die Berserker geschuftet. Sicherlich waren da auch viele Mitarbeiter skeptisch, weil sie nicht wussten, wo das endet.

'Oh Gott, was wird das jetzt?! Zu groß! Zu viel! Von allem!'“

Stefan Wey sind kaum kritische Töne über das Meininger Theater zu entlocken – bis auf wenige Sätze. Die treffen aber in ihrer Allgemeinheit auf jedes Staats- oder Stadttheater zu: „Ich bin der Meinung, dass gerade ein staatlich subventioniertes Theater den Versuch ermöglichen muss, etwas Besonderes zu machen. Dass man also nicht aus Angst vor kulturpolitischen und finanziellen Zwängen darauf verzichtet, Experimente zu wagen. Aber was ich erlebe, ist, dass wir immer wieder vor dem Publikum die Glühbirne erfinden und das Publikum davon begeistert ist, wie die Glühbirne erfunden wird. Nein, Theater muss auch Labor sein. Aufgeschlossen für Experimente. Wir können uns zwar nicht vorstellen, was wir beim Zuschauer damit auslösen, aber der Impuls muss ehrlich sein, das Publikum mit voller Kraft und wehenden Fahnen immer wieder zu verblüffen. Dazu gibt?s die unterschiedlichsten Wege. Ich kann ein Zelt aufblasen, aber ich kann auch nur mit drei Zentimeter großen Figuren, die ich in einer Streichholzschachtel beleuchte, zum Steineerweichen spielen.“

Theater muss Labor sein

„Theater muss Labor sein“ - diese Forderung hätte sicherlich auch Ulrich Burkhardt unterschrieben. Und trotzdem hat man heutzutage häufiger als in den Aufbruchsjahren den Eindruck, dass Theaterguerilleros nicht zu den Spezies gehören, die in einem Theater wie dem Meininger ein notwendiges Rädchen im Getriebe sind. Wohlgemerkt: Rädchen. Und nicht - wie bei den Avantgardisten um Intendant Res Bosshart - der ganze Motorblock. Unabhängigen Freigeistern, die, um ihre Existenz zu sichern, nichts anderes zu bieten haben als ihr mit Herzblut und Profession geschaffenes Werk, solchen Freigeistern sollte mehr denn je ein Spielraum im konventionellen Theaterbetrieb gewährt werden. Sie öffnen den Blick auf neue Horizonte. Und der ist bitter nötig.

Das Leben besteht aus einer Vielzahl von Baustellen. Stefan Wey in seinem Friedrichsdorfer Bauerngärtchen.
Foto: Siggi seuß | Das Leben besteht aus einer Vielzahl von Baustellen. Stefan Wey in seinem Friedrichsdorfer Bauerngärtchen.
 
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