„Wer singt, betet doppelt.“ Das sagte einst der Kirchenvater Augustinus in der Spätantike. Allerdings kommt es sehr auf die Art des Gesangs an. Die hochreligiöse Chormusik, die die Meißner Kantorei im Zusammenwirken mit Teilnehmern der Singwoche für neue Kirchenmusik am Freitag in der Ostheimer Stadtkirche Sankt Michael erklingen ließ, erfüllte in höchstem Maße die Voraussetzungen, um als zweifaches Gebet gelten zu können.
Leider fand das Chorkonzert unter der Leitung von Professor Dr. Dr. Christfried Brödel nicht den Publikumszuspruch, den es verdient hätte. Denn die modernen Kompositionen waren nicht weniger hörenswert als die Klassiker, die auch mit zwei Orgelstücken von Johann Sebastian Bach vertreten waren. Organist Markus Pfeiffer bewies mit seinem Vortrag von Bachs „Präludium und Fuge in c-Moll“, dass er trotz seiner Jugend bereits die schwierigsten Stücke perfekt beherrscht.
Professor Brödel gab moderierende Anmerkungen zu den einzelnen Stücken. Mit Johann Hermann Schein kündigte er als ersten einen Komponisten aus der Übergangszeit zum Frühbarock an. Quasi als Introitus nach dem ordo missae der katholischen Messe erklang „Ich freue mich im Herrn“. Die nachfolgende Vertonung des Psalms 43 „Richte mich, Gott“ von Felix Mendelssohn Bartholdy stellte dazu einen starken musikalischen Kontrast dar.
Der norwegische Komponist Knut Nystedt war dann der erste Vertreter moderner Kirchenmusik. Er hatte einen kurzen lateinischen Text (auf deutsch: „Höre unsere tränenreichen Gebete. Amen“) zu einer wehmütigen Klage vertont.
Die nachfolgenden Chorstücke stellte Brödel unter das Rahmenthema „Frieden und Versöhnung“. Komponist Enjott Schneider hat das deutsch-lateinische Gebet von Martin Luther („Verleih uns Frieden gnädiglich“) mit großer Expressivität in Töne gefasst. Das längste Tondokument war die nachfolgende Motette „Der barmherzige Samariter“ von Herbert Peter, der 2010 gestorben ist. Wie der Text hat auch die Vertonung narrative Elemente und trägt die entscheidende Botschaft der Nächstenliebe durch Melodieführung und Textwiederholungen mit größter Eindringlichkeit vor.
Nach diesem Höhepunkt der religiösen Chormusik folgte sogleich ein weiterer, verstörend machender Höhepunkt: das „Agnus Dei, deutsch“ von Henning Friedrichs. Das Textmotiv „unschuldig am Stamm des Kreuzes geschlachtet“ wurde in den drei gesungenen Strophen verfremdet durch kurze Sprech- oder Rezitationseinschübe. Vor allem aber wurde diese Aussage laut Brödel „sehr verinnerlicht“ durch die permanent und ungemein hohe Stimmlage der Sopräne, die Klage, Schmerz, Anklage, musikalisch sich hineinsteigernd, in einer unglaublich intensiven Weise zum Ausdruck brachte. Hier hat ein Komponist eine musikalische Sprache gefunden, die gegen Unrecht, Folter und Unmenschlichkeit regelrecht anschreit.
Das darauffolgende Chorstück des Barockkomponisten Heinrich Schütz („Ich bin ein rechter Weinstock“ nach dem Johannes-Evangelium) wirkte dagegen geradezu als „schöner Gesang“. Zum Schluss erklang noch einmal ein Gesangsstück von Johann Hermann Schein („Nun danket alle Gott“), und mit der Zugabe, dem Abendlied „Hinunter ist der Sonne Schein“ des gebürtigen Wasungers Melchior Vulpius (1570 bis 1615), endete das bemerkenswerte Konzert der beiden Chöre.
Professor Brödel hat seine Sängerinnen und Sänger von der Meißner Kantorei zu einem perfekten, hoch disziplinierten Klangkörper geformt, in den sich auch die Teilnehmer der Singwoche mit Stimmen von großer Musikalität und gesanglicher Perfektion einfügten. Neben dem Konzert in Ostheim gastierten sie noch zu drei weiteren Auftritten in Meiningen, Bad Kissingen und Bad Neustadt.