Manche Dinge aus früheren Zeiten stehen heute wieder hoch im Kurs. Vintage nennt man dieses Phänomen, das den alten Zeiten huldigt, gleichzeitig aber auch auf das Smartphone in der Hosentasche erlaubt. Ob Mode, Möbel oder Musik, überall wird mit dem Label Vintage geworben, historische Hifi-Anlagen werden genauso gesammelt wie Oldtimerautos. Und alte Rennräder: Dass die derzeit besonders hoch im Kurs stehe, hat mit einer Veranstaltung, beziehungsweise mit einer ganzen Veranstaltungsserie zu tun. L'Eroica!
Schon der Name zaubert ein Lächeln in die Gesichter von Sammlern alter Fahrräder. Eine Radsportveranstaltung, die seit mehr als zwei Jahrzehnten den Charme alter Rennräder zelebriert und zu Ausfahrten auf alten Straßen herausfordert. Und es sind immer mehr, die dabei sein wollen bei der Hatz über asphaltierte wie geschotterte Straßen. Einmal im Jahr, immer im Herbst, muss man hierzu in die Toskana kommen.
Als Straßen noch gekiest waren und nicht asphaltiert
In der gleißenden Sonne über den malerischen toskanischen Hügeln glänzen die Naturstraßen im Kalkstein-Weiß. "Strade Bianche" heißen die alten Wege in der Region um Siena und Florenz, weiße Straßen. Nicht nur die Landwirte sind hier unterwegs, oft verbinden sie wie ganz normale Landstraßen zwei Dörfer. Und sie stehen unter Schutz, weil sie zur Toskana einfach dazugehören.
Auf eben jenen "Strade Bianche" sind einst Radrennen gefahren worden. Notgedrungen, weil es asphaltierte Straßen vor dem Zweiten Weltkrieg und auch in der ersten Zeit danach kaum gab. Radsportlegenden wie Gino Bartali oder jener berühmte Fausto Coppi, der mehrmals den Giro d'Italia gewann, Italien nach dem Krieg zu neuem Selbstbewusstsein verhalf hat und in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, waren auf solchen Kalksteinschotterpisten unterwegs. Ein Erlebnis, das Jahrzehnte später Radfahrer nachempfinden wollen - mit möglichst alten Rädern.
Gaiole in Chianti. Ein kleines, verschlafenes Städtchen ein paar Kilometer nördlich von Siena, mittendrin im berühmten Weinbaugebiet des Chianti Classico. Es gibt nicht viel: ein paar Bars an der Hauptstraße, ein paar Vinotheken. Und auffällig viele Fahrräder in den wenigen Schaufenstern. Gaiole lebt das Fahrrad, genauer gesagt, das Rennrad. An allen Tagen im Jahr, aber an einem besonders.
Nicht weniger als 8000 Fahrer sind in diesem Jahr zur Eroica nach Gaiole gekommen, um gemeinsam Rad zu fahren. Durch die malerischen toskanischen Städte und Dörfer, durch die Weinberge und vor allem bergauf und bergab.
8000 Fahrer - und ich. Vor 37 Jahren habe ich zur Mittleren Reife von meinen Eltern mein erstes richtiges Rennrad geschenkt bekommen. Ein italienisches Rennrad. Es sollten in den folgenden Jahren viele Räder dazu kommen, auch nicht-italienische. Doch die Rahmen wie Komponenten aus Italien waren immer etwas besonderes für mich. So stand von Anfang an fest: Zur Eroica geht es nur mit einem Italiener, einem historischen, versteht sich.
Das Rad muss mindestens 30 Jahre als sein
30 Jahre muss das Rennrad alt sein für den Start bei der Eroica. Mindestens. Aus Stahl muss es sein, mit Schalthebeln am Rahmen und Bremszügen - in der Sprache der Rennradler „Wäscheleinen“ - außen verlegt. Klickpedale gehen gar nicht, an Rennräder aus Stahl gehören Haken und Riemen. Wie damals eben. Weltweit sind alte Rennräder heute ein gesuchtes Gut, das Internet macht den globalen Kauf und Verkauf möglich. Und noch immer scheinen genügend Teile vorhanden, in Schubladen von Sammlern oder irgendwo in einer Kellerecke.
Ein Vierteljahr und umfangreiche Recherchen dauerte es, dann hatte ich alle Parts für mein Eroica-Rad aus dem Jahre 1982 zusammen, samt Wolltrikot und Radschuhen aus Leder. Einzig beim Helm mache ich keine Kompromisse, schon gar nicht auf Schotter. Da muss es etwas modernes sein.
L'Eroica ist auf dem Weg ein Mythos unter Radsportlern zu werden. Nicht um zu gewinnen, nicht um die beste Zeit zu erreichen. Darum geht es nicht. Was die „Heldenhafte“ ausmacht: das gemeinsame Fahren auf alten Straßen, die unglaublich gute toskanische Küche an den Kontrollstellen - inklusive eines Schlückchens Chianti. Klar, mit Genuss allein ist es nicht getan. Um die „Heldenhafte“ zu bezwingen muss man sich auch ein wenig anstrengen.
1997 hatten ein paar radsportverrückte Italiener beim Treffen in einer Bar eine Idee: Warum nicht mal auf den alten Rennrädern, die überall noch in Kellern und Schuppen stehen, eine Ausfahrt machen? Bei der ersten Auflage waren noch nicht mal 100 Radler unterwegs, bei der nunmehr 23. Austragung im Oktober rund 8000 aus mehr als 60 Ländern. Die Eroica ist eine Erfolgsgeschichte geworden - und sie geht noch immer weiter.
Wer sich rund um Gaiole also am Oktobersonntag auf die Strecke macht, kann auswählen. Die Spazierfahrt ist etwa 40 Kilometer lang - für einen Rennfahrer zu wenig. Da dürfen es gerne 80 Kilometer, noch lieber 135 Kilometer und, für die wahren Helden der Eroica, 209 Kilometer sein. Jeweils gut ein Drittel davon auf Schotterstraßen. Schon frühmorgens, am Start noch in der Dunkelheit, bietet sich ein Schauspiel: Fahrer gehen mit Licht am Rad auf die Strecke, alle passend zum alten Rennrad in zeitgenössische Wolltrikots gekleidet, den Heldenlaibchen von einst. Wer sich mit einem modernen Rad dazwischen mogelt, wird kritisch beäugt. Es gilt zu beweisen, dass man auch auf altem Stahl richtig gut Rad fahren kann.
Bergauf, bergab, bergauf, bergab . . . und dann wieder giftig hinauf
Also 135 Kilometer. Nach gut einem Drittel wird mir klar, dass die Eroica auch sportlich richtig was zu bieten hat. Ständig geht es bergauf und bergab in den Hügeln der Toskana, Kurve rechts, Kurve links und dann wieder bergauf, bergab. Eine richtig schwere Strecke in Richtung Süden nach Buonconvento und dann zurück nach Gaiole. Auf Höhe von Murlo erhebt sich ein malerisches Schloss auf einem Berg am Streckenrand. Wenige Pedaltritte später erblicke ich das Kontrollschild der Strecke: der Pfeil zeigt hinauf zum Schloss.
Der erste schwere Schotterabschnitt, beinahe 20 Prozent steil. Um in der Toskana auf dem Rennrad ein Held zu werden, muss man da wohl hinauf. Da, und viele weitere Abschnitte auf den Strade Bianche ebenfalls. Der Schotter zieht den Rennradlern mit fortschreitender Kilometerzahl das Mark aus den Knochen, die giftigen Anstiege vor allem um den Monte Sante Marie besorgen den Rest.
Wer die Eroica meistert, ist ein richtiger Radfahrer. Wer die langen Strecken bewältigt, meinetwegen auch ein Held. Auch dann, wenn der Held den ein oder anderen Anstieg sein Rennrad bergauf, manchmal wegen des Zustands der Piste auch bergab schieben muss. Zum Abschluss geht es noch einmal hinauf zum malerischen Castello di Brolio - und dann flott bergab zum roten Banner in Gaiole.
Im Ziel: kleine Medaille, großer Rummel
Im Ziel gibt es erst eine kleine Medaille und dann ein riesiges Volksfest im kleinen Ort. Da zeigt sich, was die Eroica, die mittlerweile sogar Touren rund um den Globus anbietet, an ihrem Ursprungsort in der Toskana so besonders macht. Es ist das entspannte Radfahren und Miteinander, die gemeinsame Freude an alten Fahrrädern, an Wolltrikots, an den alten Straßen, dem guten Essen, dem Wein und der Sonne, die den ganzen Tag vom Himmel lacht. Ja, vielleicht auch an der ein oder anderen Blessur, die das Fahren über Schotterstraßen so mit sich bringt. L'Eroica, die „Heldenhafte“, ist ein Fest für alle, die sie fahren und für alle, die einfach nur zuschauen wollen.
Mein vor der Eroica penibel geputztes Oldtimerrennrad ist ein Fall für eine Generalüberholung. Der feine, weiße Staub der Strade Bianche ist in alle Ritzen gedrungen. Irgendwann im Winter, wenn bei Eis und Schnee das Radfahren sowieso keinen Spaß machen würde, werde ich mich zum Putzen für ein paar Stunden in die Werkstatt verziehen. Dort, an der Wand, hängen jetzt Startnummer und Streckenpass. Als Ansporn zum Nachdenken über künftige Touren. Nächstes Jahr findet sie wieder statt, L'Eroica. Bis dahin wird mein Italiener wieder sauber sein.